Kapitel 29

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Die Nacht war lange gewesen.

Suna hatte sie damit verbracht, sich von einer Seite seines Bettes zur nächsten zu wälzen, den Polster hin und her zu werfen, zwischenzeitlich Meditation auszuprobieren und immer wieder aufzustehen, um sich ein Glas Wasser zu holen.

Er tat alles, was er nur tun konnte – Nur schlafen konnte er nicht. Wie so viele Nächte auch.

Meistens vergaß er diese rasenden Gedanken, wenn er mit seinem Team beim Training oder in der Wohnung war oder wenn er sich mit Osamu traf, doch sobald er auch nur einen Schritt in seine kleine, dunkle Wohnung setzte, fühlte er, wie die Einsamkeit und das schlechte Gewissen Überhand seiner Gefühle nahm.

Ja, er konnte Arisa nicht ausstehen. Okay, vielleicht mochte er sie mehr als Hideaki, aber trotzdem überwogen die negativen Gefühle ihr gegenüber. Er mochte sie nicht, aber trotz allem war sie derzeit noch mit Osamu zusammen und sogar mit ihm verlobt. Empfand sie tatsächlich die Gefühle für ihn, nach denen es immer aussah, würde es ihr wahrscheinlich das Herz brechen, wenn sie von dieser Sache zwischen Osamu und ihm erfahren würde.
Osamu war verlobt und hatte trotzdem mit ihm geschlafen – So plötzlich, so unerwartet, dass Suna Nacht für Nacht darüber grübelte, was das hier alles sollte. Oder ob er es nicht selbst beenden sollte, bevor das Ausmaße annahm, die es nicht annehmen sollte.

Sie kannten sich jetzt schon so lange – Und Suna bekam das Gefühl, dass Osamu ihn mehr und mehr zerstörte, je näher er ihm kam. Wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment explodieren und ihn vernichten könnte. Wie sein persönlicher Untergang, der nur auf den passenden Moment wartete, um ihm den Boden unter den Füßen wegreißen zu können.

Wie würde er sich in dieser Situation fühlen?

Als er erneut den Weg in sein Schlafzimmer antrat, zum Fenster sah und erkannte, dass die Nacht sich langsam erhellte, griff er nach seinem Handy und sah auf die Uhr. 06.14 Uhr.

Er seufzte, lehnte sich gegen die Bettlehne und öffnete den Chat seines Teams, den er gestern nicht mehr angesehen hatte.

Tatsuda
(Link)
22.26

Tatsuda
IRGENDWANN… :D
22.26

Tao
Arschlöcher
22.30

Ouji
Wieso regt ihr euch noch
auf? Ist doch eh immer
dasselbe
22.31

Tao
Das wird langsam einfach
nervig. Ich kann nicht mal
mehr Safari öffnen, ohne
lauter Klatschnews von
dieser Seite zu bekommen.
Ich versteh nicht mal, warum
das da angezeigt wird..
22.33

Taki
Was für ‘ne Safari?
22.35

Tao
Ja diese App mit dem
Kompass-Logo halt, ich
wollte die ausprobieren
und komm nicht mal rein
22.36

Taki
Warte, was? Ich will die
auch haben!! Wie heißt die?
22.37

Tao
Warte, ich schau mal.
22.38

Isei
Ganz ehrlich, ich weiß gerade
echt nicht, wer von euch
gerade den niedrigeren IQ
beweist.
22.39

Komori
Bring uns ein Foto von der
Giraffen-Toilette mit, okay? xD
22.41

Tao
Safari
22.42

Taki
Das ist nicht verfügbar
22.44

Tao
Hä? Bei mir geht’s ja auch
22.46

Haruko
DAS IST EIN BROWSER
FÜR APPLE!! BITTE HÖRT
AUF, ICH BEKOMME
KOPFSCHMERZEN!!
22.48

Komori
xDDDD
22.48

Tao
??
22.50

Tao
Bowser?
22.51

Haruko hat Tao entfernt.

Taki
Ich versteh’s noch immer
nicht
22.54

Haruko hat Taki entfernt.
Isei hat Tao hinzugefügt.
Isei hat Taki hinzugefügt.

Isei
Geht schlafen.
23.07

Suna konnte sich das Lachen nicht verkneifen – Manchmal war die Art und Ahnungslosigkeit seiner Teamkollegen einfach zu lustig.

Kopfschüttelnd öffnete er den Link – Eine Schlagzeile seines Nicht-Lieblings-Nachrichtenportals FlashNews schlug ihm förmlich entgegen.

EJP-Raijin: Erkämpfter Sieg oder zufällige Überlegenheit?

Augenrollend scrollte er hinunter, um den Artikel zu lesen, überflog ihn dabei jedoch größtenteils – Es interessierte ihn einfach nicht, dass diese Agentur davon ausging, dass hinter ihrem Erfolg bloß Zufall und schlechte Spieler steckten, die sich hinter dem Label wie Schatten versteckten.

Er scrollte weiter, entdeckte am Ende der Seite mehrere Schlagzeilen, die ihn jedoch allesamt nur seufzen ließen.

Neues MSBY-Line-up ab 2018: Insider berichtet

Wave Music gibt Debüt von MIDNIGHT bekannt – INSIDER berichtet: DAS sind die 9 Mitglieder!

Liebes-Comeback des „Freak-Duos“ endgültig ausgeschlossen? Kageyama Tobio mit neuer Liebe gesichtet

Billboard Music Awards 2017: DAS sind die möglichen Gewinner

Wave Music bestätigt Trennung von Semi Eita und Maya Thanasulkowit

Insiderbericht: Verfahren gegen Choi Sora läuft

Neue Chocolaterie in Sendai – DAS sagen unsere Tester!

Er seufzte erneut – Das war ihm eindeutig zu viel Klatsch auf einem Haufen.

Wobei er bei der fünften Meldung sogar überlegte, darauf zu klicken – Schlussendlich entschied er sich dagegen. Er wollte dieser Seite nicht noch mehr Aufmerksamkeit schenken, als sie verdiente. Es war die typische Art von Klatschblatt, dem man in keiner Weise vertrauen, geschweige denn etwas glauben konnte. Die Strategie bestand hauptsächlich darin, Gerüchte in den sozialen Medien aufzuschnappen und als Insiderberichte zu vermarkten – Einen Zuständigen, der den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte überprüfte, konnten sie sich anscheinend nicht leisten.

Seufzend schloss er die Seite, gelangte wieder auf den Chat seines Teams und erschrak kurz, als plötzlich eine neue Nachricht angezeigt wurde.

Der Absender nannte sich Osamu. Und er brachte Suna beim Lesen der Vorschau ein solches Herzrasen, dass er sie zitternd öffnete.

Osamu
Hey, Rin. Ich habe lange darüber
nachgedacht, wie ich das hier
formulieren soll. Ich weiß, wir
haben unendlich lange und oft
darüber gesprochen. Ich weiß,
dass ich viele Fehler in meinem
Leben gemacht habe. Ich weiß,
dass ich damit einige Menschen
verletzt habe. Ich weiß, dass das
alles so nicht weitergehen kann.
Aber ich bin ein kaputter Vollidiot,
der innerlich zerstört ist und nicht
weiß, was er mit seinem Leben
anstellen soll. Und deshalb mache
ich immer wieder dumme Fehler.
Und ich verlange nicht von dir,
dass du mir davon irgendeinen
verzeihst. Ich kann es mir selbst
nicht verzeihen. Ich kann mich
nicht von ihr trennen. Ich kann
diese Hochzeit nicht absagen. Ich
kann dieses Leben nicht einfach
hinter mir lassen und mit dir
zusammen sein. Ich wollte mit ihr
reden, wirklich. Aber sie ist mir
zuvor gekommen. Ich werde Vater,
Rin. Und ich bringe das nicht übers Herz, sie damit alleine zu lassen.
Und deshalb kann ich das auch nicht einfach beenden, so gerne ich es
würde. Du kannst mir alles an den
Kopf werfen, was du nur willst.
Das tue ich mir selbst gerade schon
an. Ich sitze im Büro im Laden,
denke seit einer Stunde über mein
verdammtes Leben nach und weiß
nicht, wie ich aus dem Ganzen jemals
rauskommen soll. Du weißt, dass
ich es nicht will. Ich weiß es auch.
Und ich tue es trotzdem. Warum?
Weil ich ein Angsthase bin. Das
war ich schon immer. Atsumu war immer derjenige, der von sämtlichen Gruppen ausgeschlossen worden
ist, weil er sich manchmal mit seiner Art nicht zurückhalten konnte. Ich
hab mich damals immer darüber geärgert, dass er so war, wie er war,
und war glücklich, dass ich meine gesamte Schulzeit lang immer
Freunde um mich hatte. Aber mir
wird erst jetzt bewusst, dass nicht
Atsumu der war, der sich nicht
anpassen konnte, sondern dass
ich immer derjenige war, der sich
zu sehr angepasst hat, um zu
überleben und irgendwie glücklich
zu sein. Ich habe alles gemacht, was meine Freunde damals auch gemacht
haben. Ich habe immer alles gemacht,
was meine Eltern von mir verlangt
haben, ohne darüber nachzudenken,
dass ich zu nichts davon irgendwie
verpflichtet wäre, wenn ich mich
nur trauen würde, meinen Mund
aufzumachen. Ich war in letzter
Zeit des Öfteren auf seinem Profil
unterwegs – Er sieht so glücklich
aus. Ich vermisse ihn so sehr. Ich
würde alles dafür geben, um wieder
dasselbe Verhältnis mit ihm zu haben
wie früher. Aber ich weiß, dass ich
es verbockt habe. Genauso, wie ich
es mit dir verbockt habe. Genauso,
wie ich es mit jedem verbockt habe.
Die letzten Wochen, in denen ich
versucht habe, aus diesem
Teufelskreislauf auszubrechen
und wir so viel Zeit miteinander
verbracht haben, ist mir immer
wieder vor Augen gefallen, wie du
dich damals gefühlt haben musst.
In der Oberschule, bei meiner
Abweisung, bei allem, was ich dir
angetan habe. Ich bin ein schlechter
Mensch. Du bist das nicht.
Du bist ein herzensguter Mensch,
dem ich gerne jeden einzelnen
Zweifel an sich selbst herausziehen
wollen würde und den ich einfach
nur glücklich sehen will, denn du
hast alles Glück dieser Welt verdient.
Ich könnte dir das niemals geben,
das ist mir bewusst geworden. Ich
habe mir mein Leben selbst zerstört.
Und ich will nicht deines auch noch
mehr zerstören, als ich es sowieso
schon getan habe. Ich will, dass
du glücklich wirst. Mit Jemandem,
der dich verdient hat.
Ich verstehe es, wenn du wütend
bist. Du kannst mir alles sagen,
was du willst – Ich hab es nicht
anders verdient.
Ich habe mir diese ganze Scheiße eingebrockt, ich bin selbst Schuld
daran, und muss einfach anfangen,
es zu akzeptieren.
6.30

Suna schluckte fest. Tief durchatmend presste er die Augen zusammen, biss sich auf die Unterlippe, bis er etwas Blut schmeckte und hielt sein Handy in den Händen, als wäre es ein Heiligtum.
Er zitterte. Er zitterte am ganzen Körper. Mit halboffenen Augen starrte er auf das Display, auf Osamus letzte Nachrichten, schluckte den dicken Kloß in seinem Hals hinunter und tippte zwei kurze, einfache Wörter in das Nachrichtenfeld.

Suna
Fick dich.
6.45
(gelesen)

Dann schaltete er das Display aus. Das tiefe Atmen vernachlässigte seine Wirkung, als er sanfte, kleine Tränen auf seiner Wange vernahm und seine Nase sich etwas schloss. Er schniefte auf, strich sich mit dem Ärmel seines Lieblingspullis die Tränen aus den Augen, doch sie kamen direkt nach. Da war jemand, der sein Herz gerade mit unzähligen Nadeln durchstach, dabei absolut keine Rücksicht auf den Schmerz nahm und weiter und weiter zustach, bis er das Gefühl hatte, es übertrug sich auch auf andere Organe, wie seiner Lunge, in die man einen Faden stach, um ihm die Luft abzuschnüren.

Er schluchzte. Er schluchzte so sehr, dass er kurze, erstickte Laute von sich gab, während er sich an der Kante seines Bettes hinunterrutschen und auf den Boden fallen ließ. Er zog die Knie an den Körper, vergrub den Kopf darin, griff nach seinem Kissen und schrie hinein.

Sein Handy klingelte. Suna lehnte den Anruf ab. Doch es dauerte nicht lange, bis es erneut klingelte. Er lehnte wieder ab.

Osamu
Bitte heb ab
6.50

Suna verzog das Gesicht – Es wirkte hasserfüllt, wütend, aber dennoch mit so viel Trauer und Schmerz erfüllt, dass der Ausdruck nicht eindeutig definierbar war.

Widerwillen atmete er tief durch, nahm den Anruf an und legte das Handy an sein Ohr, schwieg in den Hörer hinein.

Am anderen Ende hörte er Osamu schniefen, empfand jedoch keinen Funken Mitleid. Stattdessen beruhigten sich in genau diesem Moment all seine trauernden Gedanken, wurden ersetzt durch pure Wut.

„Ich…“, begann Osamu. „Ich will nur, dass du weißt, wie dankbar ich dafür bin, dich kennengelernt zu haben.“
Suna schwieg, als wieder Tränen in seine Augen stiegen.
Osamu schniefte wieder – Seine Stimme war zittrig, brüchig, und er klang, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. „Du hast mir immer wieder gezeigt, welches Leben ich führen könnte, wenn ich es schaffen würde, mein jetziges in den Griff zu bekommen.“
Suna schüttelte den Kopf. „Normalerweise ist es dazu nie zu spät.“
„Doch, das ist es. Ich befinde mich mitten im Scherbenhaufen, aus dem ich nicht mehr herauskomme.“
„Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen.“ Suna merkte, wie seine eigene Stimme brüchiger wurde.
Osamu pausierte etwas länger. Die Stille war so angespannt, dass es sich einmal mehr anfühlte, als würde Gift in seinen Körper dringen, das ihn von innen heraus auslaugte.

„Ich liebe dich“, hauchte Osamu mit schwacher Stimme.
Suna sah gegen die Wand seines Schlafzimmers. „Wenn du das tun würdest, könntest du dazu stehen.“
„Ich tue es. Ich liebe dich.“
„Hör auf, das zu sagen. Du belügst dich selbst.“
„Nein, Rin.“
„Man verletzt keine Menschen, die man liebt.“ Suna schniefte auf.
Wieder blieb es eine Weile still.

„Ich verstehe es, wenn du das mit dem Trauzeugen nicht mehr machen willst“, sagte Osamu dann.
Suna verzog den Mund, dachte kurz nach, bevor er seine Antwort gab. „Ich mache es“, sagte er ruhig.

Osamu schien verwundert zu sein.

„Ich mache es…“, wiederholte er. „Ich mach es unter einer Bedingung.“
„Die wäre?“, fragte der Ältere vorsichtig.

Suna atmete tief durch, bevor er die Worte aussprach, die er schon längst hätte sagen sollen. Worte, die jeder andere Mensch schon längst verwendet hätte. Worte, die das alles ein für alle mal beenden würden.

Worte, die zwar wehtaten, aber in diesem Moment, jetzt gerade, in dieser Situation genau das Richtige waren. Und Suna wusste das. So, wie Komori immer sagte – Er musste anfangen, das hinter sich zu lassen und an sich selbst zu denken.

„Ich will, dass du danach aus meinem Leben verschwindest, Miya.“

Promise me that we'll be fine - OsaSunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt