Kapitel 9

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Das Wochenende verging viel zu schnell.
 
Als Suna am Montag wieder im Unterricht saß fühlte es sich für ihn so an, als wäre die ganze Sache mit Osamu erst wenige Stunden her – Dies könnte jedoch auch daran gelegen haben, dass er seitdem an nichts anderes mehr gedacht hatte.
Seit dieser Nacht drehten sich seine Gedanken herum, blieben stehen, drehten sich in die andere Richtung, bildeten Kreise und verwirrten ihn zunehmend.
 
Er konnte die vielen Gefühle, die er verspürt hatte, als Osamu ihn so an sich gedrückt hatte, nicht zuordnen – Es war wie ein Prickeln in seinem Bauch, das sich jedes Mal deutlich spüren ließ, wenn er an diesen Moment zurückdachte.
Er fühlte sich, als würde sich in seinem Inneren alles Mögliche in alle möglichen Richtungen drehen, als hätte er keine Kontrolle mehr über sich selbst und als würde die Welt an ihm vorbeiziehen.
 
Vor lauter Chaos bekam Suna kaum etwas von seinem Morgen mit, bis er schließlich bei seinem Tisch in seiner Klasse saß und ungeduldig nach vorne zur Tafel sah.
Er wippte mit seinem Fuß auf und ab, wusste nicht wieso, doch hörte auch nicht auf. Dann sah er unbewusst nach links, doch der Platz neben ihm war noch immer leer.
 
Und das war fünf Minuten später auch noch so.
 
Suna holte sein Handy hervor, als es nur noch wenige Minuten zur Stunde waren, doch in genau diesem Moment trat Osamu in die Klasse.
Seine nassen Haare fielen ihm mitten ins Gesicht – Es musste erst kürzlich zu regnen begonnen haben, denn als Suna zur Schule gelaufen war, war es noch bewölkt gewesen.
 
Er schaffte es nicht, den Blick abzuwenden, bis Osamu sich schließlich setzte und seufzend auf seinen Tisch sah.
Erst da bemerkte Suna, dass er noch nichts gesagt hatte.
 
„H-Hey?“ Es klang eher wie eine Frage, obwohl es eine normale Begrüßung sein sollte – Trotz allem schoss sein Herzschlag aus unbekannten Gründen wieder in die Höhe, als Osamu sich zu ihm drehte und seinen Blick direkt traf.
„Hey“, sagte der etwas Ältere, wandte dabei den Blick nicht ab. „Alles okay?“
Suna starrte ihn eine Weile an. „J-Ja. Klar. Wieso nicht?“, fragte er, tat dabei so, als wäre sein Stottern nie geschehen.
Der Wing Spiker hob unsicher die Schultern. „Keine Ahnung. Nur so.“
„Bei dir?“, lenkte Suna sofort ab, als sich die Möglichkeit ergab.
Osamu zögerte. „Jep“, sagte er dann, doch Suna kam nicht mehr dazu nachzuhaken, da seine Biologielehrerin in genau diesem Moment die Klasse betrat.
 
Und irgendwie war er ihr dafür dankbar.
 
 
 
Das Thema verschwand nie vollständig aus seinem Kopf.
Auch, wenn er nicht immer daran dachte, war es stets präsent – wie der Gedanke daran, dass er heute Training hatte, begleitete es ihn bis zum Clubraum des Volleyballclubs.
 
Dieses Mal war er nicht der Erste – nach Kita –, denn auch Ginjima, Atsumu und Aran waren bereits anwesend.
 
Als Suna wortlos den Raum betrat und die Türe hinter sich schloss, bekam er mit, dass sie anscheinend gerade über irgendwelche Lehrer und Prüfungen sprachen, und er war nicht gerade motiviert dazu bei diesem Gespräch mitzuwirken, weshalb er weiterhin nichts sagte und sich stattdessen schweigend zu seinem Platz stellte und begann sich umzuziehen.
 
Und zu seinem Glück waren die drei so vertieft, dass sie ihn nicht einmal bemerkten.
 
„Dann meckert die noch herum, dass sie ja keine Handys sehen will, weil sie die sonst einkassiert, egal ob wir sie benutzt haben oder nicht“, äffte Atsumu offenbar seine Mathelehrerin nach. Sie hatten wohl alle nicht wirklich Glück bei diesem Fach gehabt, bemerkte Suna.
„Pass auf, sie macht das wirklich“, merkte Aran an, der bereits fertig umgezogen gegen ein Regal lehnte.
„Wer’s glaubt.“
„Ich hatte sie in der Ersten auch. Die kassiert die Handys schneller ein, als sie jegliche Arbeiten korrigiert zurückgibt.“
„Die liebt sie ja über alles“, sagte Ginjima leise lachend.
„Oh ja. Erste Stunde nach den Ferien, und direkt ein kleiner Test über’s letzte Schuljahr…“, sagte Atsumu seufzend, legte sich dann auf die Sitzbank und stützte seine Füße gegen den angrenzenden Schrank.
„Sunarin.“
 
Suna rollte mit den Augen, drehte sich zu ihm, als er sich sein Sportshirt angezogen hatte. „Ja?“
„Ihr habt doch Kurumi in Mathe, oder?“
„Nein, ich kann nich‘ mit dir tauschen.“
„Woher wusstest du-“
„Und glaub mir, das würdest du auch nich‘ wollen.“
„Wies-“
„Weil du bei Kurumi schon in der Ersten durchgefallen wärst, weil sie absolut keine Gnade hat.“
„Aber-“
„Sei einfach froh, dass du Mayeda hast.“
„Ja, aber-“
„Dann lern halt mehr.“
 
Ginjima musste leise kichern, während Atsumu den verwirrtesten Ausdruck im Gesicht hatte, den Suna je bei einem Menschen gesehen hatte.
„Woher wusstest du, was-“
„Du bist ziemlich durchschaubar.“
 
Nun fiel Aran in das Kichern mit ein.
Suna schlichtete seine Sachen zurecht, als die Tür sich erneut öffnete. Er sah nicht hin, da es ihn eigentlich gerade nicht interessierte, wer zu diesem sinnvollen Gespräch hinzugestoßen war.
 
Erst, als er Osamu plötzlich neben sich stehen sah, zuckte er zusammen, doch dies schien offenbar keiner zu bemerken – zum Glück, denn sonst hätte er sich wieder irgendwelche unnötigen Kommentare seitens Atsumus anhören müssen.
Und Osamu bemerkte es ebenso nicht – zumindest ließ er es sich nicht anmerken.
 
Suna atmete unauffällig durch, drehte sich dann kurz zu seinen anderen Teamkameraden – Sie alle waren vertieft in ihr Gespräch, bemerkten beinahe nichts Anderes mehr, was um sie herum geschah.
Und ohne, dass es ihm richtig bewusst war, nutzte Suna diesen Moment, um ein weiteres Mal zu Osamu zu sehen – Von der Seite hatte er ihn noch nie so richtig betrachtet, dennoch wirkte seine sanfte, beinahe zarte Kontur so vertraut, als hätte er sie studiert.
Osamus Stirnfransen, die schon etwas länger gewachsen waren, fielen ihm über die Augen, als er sich bückte, um sein heruntergefallenes T-Shirt aufzuheben. Mit einer einfachen Handbewegung strich er sie sich zurück an den richtigen Platz, setzte es fort sich umzuziehen, während Suna ihm dabei zusah, als wäre er ein Lehrer, der einen Schüler, der oft schummelte, beobachtete.
Als Osamu sich sein Hemd auszog und damit wieder seinen trainierten Oberkörper zeigte, sah Suna schnell zur Seite – Er spürte, dass seine Wangen rot wurden und sich erhitzten. Nervös biss er sich auf die Unterlippe, schloss für einen Moment die Augen, atmete leise durch.
Wieder blieb das Bild, das er gerade eben gesehen hatte, vor seinem geistigen Auge hängen und egal wie sehr er es versuchte, er bekam es einfach nicht weg. Seine Gedanken drehten sich und wieder bemerkte er, wie sein Herz höher schlug.
Seit dieser Nacht, in der der jüngere Zwilling so betrunken gewesen war, hatte Suna keine freie Minute gehabt, in der er an keinem Gedanken- und Gefühlschaos gelitten hatte. Zusätzlich dazu hatte er keine Ahnung, was nur mit ihm los war, und er wollte unbedingt eine Antwort darauf, bevor er noch durchdrehen würde.

Erneut war er so tief in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkte, dass die Anderen schon fertig waren.
 
„Ich geh schon mal rein“, meinte Osamu, ging dann gemeinsam mit Aran und Ginjima zur Halle.
Und das noch bevor Suna irgendetwas darauf hätte sagen können.
 
Für einige Zeit starrte er auf die Tür, komplett planlos darüber, was er überhaupt hatte tun wollen und was er gerade getan hatte.

„Und? Wie war der Samstag?“
 
Vor Schreck zuckte der Mittelblocker ein weiteres Mal hoch – Er hatte Atsumu komplett vergessen.
 
„Wie soll er gewesen sein?“, fragte Suna genervt, warf dabei dem Setter, der ein schelmisches Grinsen auf dem Gesicht trug, einen strengen Blick zu.
„Samu hat bei dir übernachtet, nich‘?“
 
Es war ein normaler Satz, doch zugleich war es wie eine Kassette, die man in den Video-Player schob und daraufhin ein Video darauf sah, an das man sich vielleicht nicht erinnern wollte.
„Ja. Und?“, fragte er so gleichgültig wie möglich.
 
Atsumu grinste weiter. „Hattet ihr was?“
 
Suna hätte sich fast an der Luft verschluckt. „Sorry, was?!“
Atsumu lachte auf. „Hattet ihr Sex?“
„Nein!“, rief Suna laut heraus, doch Atsumus Lachen war fast noch lauter.
„Sicher?“
„Natürlich! Wie kommst du darauf?!“
 
Atsumus Lachen verstummte, doch sein Grinsen blieb weiterhin auf seinem Gesicht. „Naja… Ich frag mich, wann du endlich zugibst, dass du ‘nen Crush auf ihn hast.“
 
Suna öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn sofort wieder – Er war sprachlos. Wie kam Atsumu nur auf so etwas??
Überfordert strich er sich über sein Gesicht, seufzte. „Hab ich nich‘. Er is‘ mein bester Freund und ich bin nich‘ schwul.“
 
Der Blonde hob misstrauisch die Augenbrauen. „Kannst ja auch bi oder pan sein. Theoretisch.“
„Bin ich nicht!“
„Eben. Also?“
 
Es dauerte, bis Suna verstand. „Du bist ein Arschloch, Atsumu.“
„Erinner‘ dich daran, dass Osamu und ich dasselbe Gesicht haben.“
„Das hat damit nichts zu tun!“
„Naja, doch.“
„Halt einfach deine Klappe…“
 
Eine Weile blieb es ruhig zwischen ihnen, bis Suna seine Sachen ordentlich einsortiert hatte.
 
„Ich mein’s ernst…“, sagte Atsumu irgendwann, erhob sich von seinem Platz und stellte sich neben ihn, doch der Braunhaarige mied seinen Blick. „Ich hab das schon länger bemerkt.“
„Was?“ Suna stellte sich dumm.
„Du weißt was.“
 
Suna seufzte, schloss für einen Moment die Augen.
Was Atsumu da erzählte, war reiner Schwachsinn. Er wusste, dass er nicht auf Jungs stand, und auch, wenn er sich in Osamus Nähe die letzten Tage stets seltsam gefühlt hatte, war er sich sicher, dass er absolut nichts für ihn empfand.
 
Er empfand nichts für ihn. Nichts für seine Art, die ihn stets zum Schmunzeln brachte. Nichts für seine ruhigen, grauen Augen, die ihn stets dazu brachten, in ihnen zu versinken und sich fallen zu lassen. Nichts für seinen Körper, der ihn schon zum zweiten Mal Rot hatte werden lassen.
Und das schnelle Herzschlagen in seiner Nähe hatte bestimmt auch mit etwas Anderem zu tun.
 
„Es is‘ nichts Schlimmes daran, Suna“, erklärte Atsumu, doch Suna reagierte darauf nicht – Seine Gedanken begannen wieder sich zu drehen, doch sortierten sich zugleich, als er sich immer wieder sagte, dass all diese seltsamen Geschehnisse reine Einbildung wären.
„Wir sollten auch zur Halle“, sagte er leise, verließ dann ebenfalls den Clubraum.
 
Alles Quatsch.
Ich stehe nicht auf Jungs, und ich stehe auch nicht auf Osamu.
Ich könnte mich nie in meinen besten Freund verlieben.
Außerdem ist er hetero.
 
Suna schnaubte, während er in seinem Kopf ein Selbstgespräch führte und zur Halle wanderte.
 
Ich bin nicht verliebt.
Sowas wie wahre Liebe gibt es doch eh nicht…
Am Ende wird man immer nur verletzt.
Er schüttelte den Kopf – Immer wieder hörte er nur davon, wie Herzen gebrochen wurden, wie Beziehungen scheiterten oder wie Leute sich scheiden ließen. Er hatte kein Interesse daran, für jemand anderen auch nur eine einzige Träne zu opfern oder sich an irgendjemanden zu hängen, der ihn im Endeffekt wieder fallen lassen würde.
 
Ich bin nicht verliebt.
 
Sagte er sich immer wieder.
 
Kopf, halt die Klappe.
Herz, schlag nicht so schnell.
Das bedeutet nichts.
 
Er atmete einmal tief durch, bevor er die Tür zur Halle aufstieß und diese betrat.
Mit reinen Gedanken stellte er sich zu den anderen dazu, die darauf warteten, dass der Trainer zu sprechen begann.
 
Als Atsumu als Letzter ebenfalls dazukam, begann er seine kleine Rede über das baldige Interhigh-Turnier und Suna schaffte es, die vielen Gedanken an Osamu etwas zur Seite zu legen.
 
Zumindest, bis er im Augenwinkel sah, wie sein bester Freund sich neben ihn stellte – Nur ein paar Zentimeter lagen zwischen ihnen.
Und sein Herz schlug wieder höher, als ihm bewusst wurde, wie nah sie sich waren.
 
Konnte da wirklich mehr sein?

Promise me that we'll be fine - OsaSunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt