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Wir stehen noch einige Zeit schweigend auf der Brücke und ich genieße den Augenblick. Jede Sekunde sauge ich tief in mir auf, um möglichst lange von den Erinnerungen zehren zu können.

Paddy hat mir heute so unglaublich viel von sich erzählt. Er hat sich mir geöffnet. Obwohl er auch schon einiges von meiner Geschichte weiß, kennt er doch nur die 'geschönte' Variante, die ich wenn überhaupt erzähle. Wäre es jetzt an der Zeit, ihm auch tiefere Einblicke zu gewähren?

Ich greife nach Paddy's Hand und wir gehen runter an das Rheinufer, wo wir uns hinsetzen. Ich weiß zwar nicht, was Paddy noch geplant hat und ob das in den Plan passt, aber das ist mir gerade egal.

Paddy sieht mich zwar fragend an, sagt aber nichts und folgt mir.

"Tobi und ich, wir kannten uns aus der Schule, er war eine Klasse über mir und der absolute Sunny-Boy, ein richtiger Mädchenschwarm. Er hat bei uns in der Nachbarschaft gewohnt und so sind wir oft zusammen zur Schule gegangen. Irgendwann haben wir uns auch außerhalb der Schule getroffen und wurden dann ein Paar. Ich war so glücklich. Tobi war echt ein absoluter Traummann, schien mir jeden Wunsch aus den Augen abzulesen. Als wir ca. ein halbes Jahr zusammen waren, starben meine Eltern. Tobi und Leo waren in der Zeit danach meine Stützen. Sie haben mich aufgefangen. Tobi hat mich jede Nacht festgehalten, wenn ich wieder schlecht geträumt habe. Er hat versucht, mich abzulenken und mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich habe allerdings schnell bemerkt, dass ihn da zu nerven scheint, denn er hatte sich mit der Zeit verändert. Irgendwann kam er zu mir und meinte, dass wir schon so lange zusammen wären, aber noch nicht miteinander geschlafen haben und dass er doch endlich mit mir schlafen will. Ich jedoch war zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht so weit. Ich hatte ein paar Monate vorher meine Eltern verloren. Tobi hat das nur widerwillig akzeptiert. Immer wieder hat dann versucht, mich ins Bett zu kriegen, jedoch erfolglos. Es war für mich schließlich auch das erste Mal und das sollte etwas besonderes sein. Ich habe versucht, es ihm zu erklären. Als wir dann unseren ersten Jahrestag hatten, habe ich Tobi's Wohnung ein wenig gemütlich gemacht, habe Essen gekocht, extra neue Unterwäsche gekauft und auf ihn gewartet. Er kam irgendwann nach Hause, völlig betrunken und der Abend war gelaufen. Daraufhin gab es Streit. In der Folgezeit ergab es sich dann einfach nicht und irgendwann hat Tobi mich quasi erpresst, entweder ich würde jetzt endlich mit ihm schlafen oder er würde die Beziehung beenden.

So kam es dann dazu, dass ich mein erstes Mal mit ihm hatte. Nicht so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Auch hatte ich Schmerzen, was Tobi aber egal war, Hauptsache er hatte seinen Spaß.

Ich war zu zu diesem Zeitpunkt viel mit Leo zusammen, noch mehr als all die Jahre vorher und auch das war irgendwann ein Problem für Tobi.

Als mein Opa dann gestorben war, hat er nur gemeint, dass er so ein Spiel wie nach dem Tod meiner Eltern nicht nochmal mit macht. Ich habe versucht, meine Trauer vor Tobi nicht zu zeigen, doch das ist mir nicht gelungen. Er war einfach nur noch genervt und schlecht gelaunt. Das habe ich dann auch immer abbekommen. Anfangs war ich nur sein Kummerkasten, wenn es auf der Arbeit nicht lief, im Laufe der Zeit hat er auch zu Hause wegen jeder Kleinigkeit gemeckert und mich beschimpft und beleidigt. Daran habe ich mich irgendwie gewöhnt. Als sich dann aber auch noch Leo umgebracht hat, brach meine letzte Stütze weg. Ich war gebrochen, gefangen in der Trauer. Tobi hingegen hat das nicht verstanden. Er hat von mir verlangt, dass ich funktioniere. Kochen, waschen putzen und die tolle Freundin spielen. Aber ich konnte einfach nicht. Zu seinen Ausrastern und Beleidigungen kam dann irgendwann, dass er sich das genommen hat, was er von mir wollte. Dabei war es ihm egal, ob er mir weh tut oder mich benutzt. Ich habe mit der Zeit einfach auf Autopilot gestellt und gemacht, was er wollte, so war es für mich etwas besser zu ertragen. Als Tobi das jedoch durchschaut hat, fing er an, mich Klein zu machen. Seine Worte waren so verletzend. Ich wollte mehrfach gehen aber er hat mich eingeschüchtert. Ich wusste nicht, wo ich hin soll. Also bin ich geblieben. Habe mich in Erinnerungen und Musik geflüchtet, quasi in eine Scheinwelt. Das hat ihm auch nicht gepasst. Es war einfach die Hölle und doch war ich all die Jahre zu schwach, meine Sachen zu packen und zu gehen.

Letztlich bin ich quasi geflüchtet. Tobi kam eines Nachts völlig betrunken nach Hause. Wir hatten uns gestritten und er hat mit Gegenständen nach mir geworfen und mich somit verletzt. Als er dann nachts nach Hause kam, hat er mich grundlos geschlagen und .... er hat... er hat mich  vergewaltigt".

Durch meinen Weinkrampf muss ich meine Erzählung kurz unterbrechen, traue mich aber nicht, Paddy anzusehen.

"Die Nachbarn haben meine Schreie gehört und die Polizei gerufen. Die haben Tobi mitgenommen und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Dort hat man mir geraten, Tobi anzuzeigen und ihn zu verlassen. Ich wollte das erst nicht, doch hab mich dann doch getraut und habe bei der Polizei meine Aussage gemacht. Danach bin ich zurück in die Wohnung, habe das nötigste eingepackt und bin bei einer Freundin untergekommen. Von dort aus habe ich meinen Umzug geplant und bin mit meinen wenigen Sachen hierher nach Berlin gekommen".

Niemand, wirklich niemand weiß davon. Paddy ist der Erste, dem ich meine ganze Geschichte erzähle.

Ich fühle mich einerseits so klein und schäbig, andererseits tat es gut, endlich mal alles von der Seele zu reden. Damit sind zwar die Narben nicht verheilt aber ein wichtiger Schritt, um damit endgültig abzuschließen.

Paddy hat nichts gesagt, nachdem ich geendet habe. Vorsichtig hebe ich meinen Blick und schaue ihn an. Er sitzt da, die Hände zu Fäusten geballt und Tränen laufen seine Wange runter. Er scheint völlig geschockt und wütend zu sein.

Er bemerkt meinen Blick und sofort entspannt sich sein Gesicht. Wortlos steht er auf und zieht mich in seine Arme. Dann gibt es für mich kein Halten mehr, meine Tränen laufen einfach und ich kann sie nicht stoppen. Paddy zieht mich noch enger an ihn und hält mich einfach fest.

"I'm so sorry, little Sunshine, that you had to go through that. Er ist einfach ein Arschloch. Du bist so eine tolle Frau. Niemand hat das Recht, einem anderen so etwas anzutun".

Wir stehen noch eine Weile so dar, bis ich mich wieder beruhigt habe. Dann löse ich mich von Paddy.

"Es tut mir leid, dass ich ausgerechnet heute dir meine Geschichte erzähle. Du hast dir so viel Mühe gegeben und ich hab es jetzt versaut..." - "Nein, stopp Merle. Du hast überhaupt nichts versaut. Im Gegenteil. Es war nicht leicht für dich, darüber zu reden. Und doch hast du es getan. Du vertraust mir und das macht mich glücklicher als alles andere. Ich möchte einfach nur, dass du glücklich bist und es dir gut geht. Und wenn du magst, gehen wir jetzt zurück zum Hotel und ich sage alles weitere für heute ab."

Überrascht sehe ich ihn an. "Was hast du noch alles geplant?" Jetzt grinst er und küsst mich auf die Stirn. "Wenn du willst, kannst du es heraus finden. Aber zum Hotel müssen wir wirklich zurück". Ich greife seine Hand und wir machen uns auf den Weg zurück Richtung Hotel.

Es fühlt sich alles so gut an. Paddy's Liebe und Fürsorge, seine Wärme. Er gibt mir Halt. Und ich habe das Gefühl  dass ich durch das Offenlegen meiner Geschichte den richtigen Weg eingeschlagen habe. Meine Geschichte zu erzählen war der letzte Schritt, die Vergangenheit endlich loslassen zu können.

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