"Eine Zeit der Unsicherheit, aber auch des Wachsens, und zwar in sich selbst als auch in das hinein was einen umgibt. Sie werden sich selbst immer weiter kennenlernen, neue Erfahrungen machen, manches hinterfragen oder auch neu ordnen. Ich habe diesen Moment, seit ich diesen Beruf ausübe, gleichermaßen herbei gesehnt und auch gefürchtet. Und womöglich geht es Ihnen da ähnlich. Viele Jahre hindurch arbeitet man auf dieses Ziel hier hin, und wenn es da ist, dann bleibt da vielleicht auch eine kleine Leere zurück. Und diesen neuen Platz in ihnen, den werden sie nun aber mit neuem füllen. Mit neuem Wissen, neuen Wünschen, mit neuen Freund*innen und neuen Erfahrungen. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie diese nächsten Jahre mit Mut erfüllen, mit Zuversicht und Neugierde, und dass Ihnen das Einstein ein Fundament geschaffen hat, auf das Sie immer bauen können."
Die Aula, die bis auf den letzten Platz belegt ist bebt nach Dr. Zechs Worten. Alle klatschen, viele sogar stehend. Vereinzelt laufen Tränen, einige liegen ihren Mitschüler*innen in den Armen. Ich sitze zwischen Luca und Colin, und beide umarmen mich zeitgleich. Wir alle drei haben uns für dunkelblaue Anzüge entschieden. Colin's braune lockige Haare hat er sich vorhin von Julia stylen lassen, und seinen silbernen Ohrstecker hat er, passend zu unseren Outfits, gegen einen kleinen blauen Stein ausgetauscht. Er sieht teuflisch gut aus, und auch nach über drei Jahren Beziehung, lässt mich sein Anblick immer noch kurz den Atem anhalten.
Auf der Empore, die an drei Seiten der Aula verläuft, sitzen Colin's Eltern. Seine Mama winkt uns, und wischt sich gleichzeitig ständig ein paar Tränen aus dem Gesicht. Sein Vater streckt nur fröhlich beide Daumen nach oben. Beide empfinde ich inzwischen als so etwas wie Familie. Ich habe in den letzten Jahren häufig meine Ferien bei ihnen verbracht, und bin dafür ungemein dankbar. Im Sommer reisen Colin und ich auch regelmäßig zu meiner Großmutter nach Dänemark. Vorhin habe ich extra noch mit ihr telefoniert und ihr ein Foto von uns "adretten Männern" (ihre Worte, nicht meine) geschickt. Ich bin froh, dass ich vor einigen Jahren wieder den Kontakt zu ihr gefunden habe. Sie war die letzten Jahre eine wichtige Bezugsperson für mich, jemand, bei dem ich mich richtig gefühlt habe und erwünscht.
Von meinen Eltern kann ich das leider nicht behaupten. Zwischen uns ist die Beziehung noch immer unterkühlt und verhalten. Trotzdem sind sie heute hier. Ich habe sie aber noch nicht gesehen. Seit sie vor ein paar Jahren erkannt haben, dass Colin und ich ein Paar sind, ist unsere Beziehung in eine Art freundliches Schweigen verfallen. Wir telefonieren an Geburtstagen oder vor größeren Ferien, und schreiben uns zu Feiertagen eine Postkarte. Mehr nicht. Wenn die Sprache dennoch auf Colin kommt, etwa weil ich meine Ferien dort verbringe, dann sprechen sie immer von "diesem Mitschüler". Einfach gruselig, wie schwer sie es sich damit tun. Mir tut es inzwischen mehr für sie selbst leid, denn für mich. Ich bin einfach gespannt auf das Leben, das auf Colin und mich wartet. Wir ziehen in wenigen Wochen zusammen in unsere erste eigene Wohnung, und er startet im Oktober mit einem Jurastudium. Irgendwie amüsiert es mich köstlich, dass mein homophober Vater und mein Freund eines Tages fachliche Kollegen sind. Was wohl mein Vater dazu sagt, wenn er erfährt, dass "dieser Mitschüler" auf dem besten Wege ist Jurist zu werden. Ich selbst bin noch nicht so sicher was meine Zukunft angeht. Ich möchte erstmal diesen neuen Lebensabschnitt genießen. Ich freue mich auf das Leben in der Stadt, auf Clubs und Konzerte, und ja, auch auf eine queere community. Ich habe ein ziemlich gutes Abi geschrieben, was vermutlich auch daran lag, dass ich einen sehr klugen und disziplinierten Typen an meiner Seite habe ("Herausragend gutaussehend hast du vergessen!" würde er vermutlich ergänzen, wenn er meine Gedanken hören könnte). Ich möchte trotzdem erstmal jobben und Praktika machen, und schauen, was mein Weg sein wird. Ich habe einfach keine Ahnung, was genau mich reizt oder interessiert. Ich kann schon vor mir sehen, wie mein Vater bei dieser Vorstellung vermutlich einen Tobsuchtsanfall bekommt. Aber ich möchte mich einfach nicht unter Druck setzen. Die Zeit auf dem Einstein Internat war schön, und es wird immer ein ganz besonderer Ort und auch ein prägender Lebensabschnitt bleiben, aber ich will jetzt auch dieses neue Leben! Ein Leben mit weniger Regeln. Und ein Leben mit Colin.
Und als hätte er geahnt, dass ich über ihn nachdenke, spüre ich seine Hand auf meinem Schenkel. Kurz darauf lehnt er sich mir entgegen und küsst mich auf die Wange. "Wir haben's geschafft, Pie", flüstert er leise. Pie ist ein Kosename, der wirklich nur für unser beider Ohren bestimmt ist. Ich greife in seinen Nacken, und lege meine Lippen auf seine. Für mich schmecken sie in diesem Moment nach glühender Zukunft.
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somewhere in between
RomanceSomewhere in between Das ist eine Fortsetzungsgeschichte zur Nolin Fanfiction "ein Stein ist hart zu brechen". Noah und Colin sind inzwischen fertig mit der Schule, und es beginnen die ersten Schritte in ein unabhängiges, erwachsenes Leben. Doch bei...