Kapitel 6: Colin

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"Erinnerst du dich noch an unsere erste Nacht, in unserem Dachzimmer im Einstein?", frage ich.
Ich liege in Noahs Arm. Unsere Haut ist noch feucht von der Dusche die wir genommen haben. Wir liegen auf einer großen Matratze mitten im Zimmer. Eigentlich hätte heute unser Bett geliefert werden sollen, aber irgendwo auf halber Strecke muss es zu Problemen gekommen sein.
"Du hast mich damals gefragt, ob der Aberglaube, dass das, was man in der ersten Nacht in einer neuen Wohnung träumt in Erfüllung geht, wohl auch für Internatszimmer gilt."
Ich nicke. Ich erinnere mich gut an diesen ersten Tag nach den Sommerferien. Ich war damals so aufgeregt.
"Was würdest du unter diesen Voraussetzungen heute Nacht gerne träumen?" frage ich ihn, und streiche mit meiner Hand über seine Brust.
Er schweigt eine ganze Weile. Die einzigen Geräusche, die in unsere neue gemeinsame Wohnung hinauf schallen, sind die aus einem naheliegenden Park. Wir haben alle Fenster weit geöffnet, weil es noch immer nach frischer Farbe riecht. Um uns herum stapeln sich die Umzugskisten und alle möglichen holzbretter und Werkzeuge. Dennoch habe ich gerade das Gefühl, dass ich niemals glücklicher war.
"Ich habe eigentlich alles, was ich mir erträumt habe", sagt Noah da leise, und ich küsse ihn zart, weil es mir genauso geht.
In den ersten Tagen nach der Abifeier hing ich wirklich durch. Noah und ich waren erst für eine Zeit bei meinen Eltern und dann bei seiner Großmutter in Dänemark. Er war ganz Energiegeladen, hat angefangen morgens laufen zu gehen. Manchmal hat es sich angefühlt, als würde er so versuchen, den Drang im Zaum zu halten, sich einfach sofort auf die Reise in unser neues Leben aufzumachen.
Ich hingegen habe in diesen ersten Wochen Momente gehabt, da habe ich unter der Dusche heimlich geweint. Ich habe mich irgendwie geschämt dafür, dass ich so wenig Aufbruchstimmung in mir verspürt habe, und schlimmer noch, dass ich am liebsten einfach die Zeit angehalten hätte. Ich hätte noch Monate lang mit Noah im Dachzimmer im Einstein einziehen können. Ich wollte nicht raus in die große weite Welt. Alle in meiner Familie und meine Freunde waren ganz aufgeregt, wegen der Studienplatzzusage für Jura, und ich selbst hatte eigentlich nur Angst. Wie wird es sein weg zu ziehen? Wie wird es sein mit Noah alleine in einer eigenen Wohnung zu leben? Wie wird so ein Leben an der Uni ablaufen? Was, wenn dort jemand ein Problem mit mir hat? Ich konnte diese Gedanken in den ersten Wochen kaum abschalten, lag oft genug wach, während Noah neben mir schlief. Doch jetzt, in diesem Moment, nach einem ungemein anstrengenden Tag, der geprägt war von Kisten schleppen, Regalen zusammen bauen, putzen und streichen, und an dessen Ende ich jetzt hier in seinem Arm liege, und von draußen der Geruch nach Holzkohlegrills, nach Sommer und nach Zukunft durch unser Fenster weht, da fühle ich mich zum ersten Mal seit Wochen wieder frei.

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