Kapitel 43: Noah

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Es ist irgendwann im Dezember. Ich habe echt viel gearbeitet die letzten Wochen. Rakim arbeitet momentan auch mehrmals die Woche im Island, und zusammen sind wir ein echt gut funktionierendes Team. Ich bin froh über all die Stunden Beschäftigung, übernehme so viele Schichten wie nur möglich. Jeder Moment, den ich nicht alleine in der Wohnung herum sitze ist Gold wert.
Ich habe die Wohnung ein bisschen umgestellt. Unser Bett habe ich direkt ans Fenster geschoben. Das einzige Fenster im Schlafzimmer ist bodentief, sodass ich jetzt, wo ich hier sitze und die Vorhänge zur Seite geschoben habe, einen Blick über die Nachbarschaft habe. Ich habe das Licht im Zimmer ausgeschaltet. Das fühlt sich einfach besser an. Ich kann helles Licht momentan nicht gut aushalten. An den Balkonen der gegenüberliegenden Häuser leuchten die Lichterketten. Ich kann in einige der Wohnungen hineinschauen, erhalte einen Ausschnitt des Lebens der anderen, und jedes einzelne davon erscheint mir in diesem Augenblick erstrebenswerter als das meine.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich eine Leere in mir spüre, doch selbst dafür müsste ich irgendetwas fühlen. Aber da ist eigentlich gar nichts mehr.
Ich habe Colin's Familie eine Weihnachtskarte geschrieben. Die Geschenke liegen dafür noch immer unverpackt unten im Kleiderschrank. Auch das Geschenk, das ich für Colin gekauft habe. Eine antike Justitia Figur, die ich in einem kleinen Antiquitätengeschäft gefunden habe. Normalerweise wären wir über die Feiertage bei seinen Eltern. Wir hätten jetzt vermutlich kitschige Pyjamas an, und würden so viele Plätzchen essen, dass wir danach dankbar für die elastischen Gummizüge an den Schlafanzughosen wären. Ich habe nicht viele Worte gefunden, die ich seinen Eltern schreiben konnte. Am Ende waren es leere Floskeln, aber ich war wenigstens nicht stumm geblieben, obwohl mir eigentlich genau danach ist. Mit niemandem sprechen, niemanden sehen.
Meine Eltern habe ich zum ersten Mal zu Weihnachten gar nicht mehr kontaktiert. Noch heute erinnere ich mich nur noch dunkel an den Abend. Ich weiß noch, wie sich dieses hohle Gefühl in mir breit gemacht hat, als mein Vater mir offenbart hatte, was wirklich hinter seiner Kontaktaufnahme der letzten Monate steckte. Ich weiß, dass Colin sich nie auf so etwas eingelassen hätte. Mein Vater vergisst einfach oft, dass es Menschen gibt, die er nicht manipulieren kann, weil sie schlicht nicht so düster unmoralisch sind wie er. Und vielleicht wäre ich unter normalen Umständen schrecklich wütend geworden. Aber so, unter den Bedingungen in denen ich inzwischen lebe, unter denen war es mir eigentlich irgendwie egal. Ich habe einfach gar nichts mehr gespürt. Ich muss irgendwie aufgestanden und gegangen sein. Danach habe ich meine Eltern endgültig auf allen Kanälen blockiert. Geendet hat der Abend in einer echt ranzigen Bar am Stadtrand. Ich habe in dieser Nacht auch mehrmals bei Colin angerufen. Aber ohne Erfolg. Zur Strafe hatte ich am nächsten Tag den Kater meines Lebens.
Ich lasse mich zurück aufs Bett fallen, und starre an die Decke. Diese Dunkelheit in mir, sie ist so besitzergreifend geworden. Sie dehnt sich in mir aus wie Nebelschwaden, sodass ich das Gefühl habe keine Luft mehr zu bekommen. Ich setze mich auf, weil der Druck in der Brust so stark wird, und da sehe ich, dass es zu schneien beginnt. Es erinnert mich an das erste Weihnachten, das ich bei Colin verbracht habe. Damals waren wir so voller Zuversicht auf unser beider Leben. Kurzentschlossen stehe ich auf, ziehe meine Jacke und eine Mütze über, packe Kopfhörer ein und verlasse die Wohnung. Ich sage ja, ich halte die Stille da nicht lange aus.
Draußen wirbelt mir der Schnee um mein Gesicht, setzt sich auf meinen Wimpern und Wangen ab. Ich drehe die Musik auf, und Papa Roach singen über Kopfhörer Kill the noise, aber die Stimmen in meinem Kopf bringen auch sie nicht zum Schweigen.

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