Kapitel 2: Colin

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Der ganze Festsaal vibriert. Nach der Zeugnisverleihung in der Aula ging es weiter zum Bankett. Der Festsaal ist mit zahlreichen Tischen bestückt, bunte Lampions hängen von der Decke, und am hinteren Ende öffnet sich die breite Glasfront in Richtung Garten. Dort wird heute Abend gegrillt, während im Saal selbst lange Tische mit einem reichhaltigen Buffet aufbereitet sind. Es liegt eine eigenartige Stimmung im Saal, und irgendwie auch in jedem von uns selbst. Beinah, als hätte in mir drin jemand eine Gitarrenseite angeschlagen klingt etwas ständig in mir nach.
Man stolpert über Lehrkräfte und Mitschüler*innen, man umarmt, weint, küsst und lacht, und das in einem stetigen Wechsel. Vielleicht hat man sich nie mehr mit dieser Schule verbunden gefühlt, als in den letzten Stunden in denen man sie besucht.
Unsere vergangenen Wochen und Monate waren geprägt von Stress, von Aufregung, Angst, Erleichterung. Es war ein Potpourri an Gefühlen. Und jetzt, da wir unsere Zeugnisse in Händen halten, da fällt vieles ab, und lässt aber eben auch ein eigenartiges Gefühl zurück.
Ich sehe Noah von weitem am Rand des Saales stehen. Seine Eltern stehen bei ihm. Sein Vater spricht und Noah nickt. Ich würde gerne zu ihnen gehen, vor allem, um Noah in diesen Momenten nicht alleine lassen zu müssen, aber wir haben uns darauf verständigt, dass es besser ist, wenn zwischen seinen Eltern und mir ein gewisser Sicherheitsabstand besteht.
So viele Jahre sind Noah und ich nun schon miteinander glücklich, und im Unterschied zu vielen anderen auf dem Internat hatten wir in unserer Beziehung bisher weder größere Streits, noch sonstige downs. Manchmal glaube ich, dass die Tatsache, dass wir zu Beginn so viel für diese Liebe gekämpft haben, dazu geführt hat, dass wir heute vor allem dankbar für den anderen sind.
Ich wende mich ab, und lasse den tobenden Festsaal hinter mir. Ich möchte noch richtig Abschied nehmen.
Langsam gehe ich den langen Flur entlang, vorbei an Dr. Zechs Büro, in dem Noah und mir damals irgendwann gesagt wurde, dass wir nicht mehr im selben Zimmer wohnen dürfen. Die Internatsordnung verbietet sexuelle Beziehungen zwischen Schüler*innen allgemein. Das hat auf dem Internat aber niemand davon abgehalten. Auch Noah und mich nicht. Ab Klasse 12 hatte ich außerdem ein Einzelzimmer, und hier haben wir zwei mitunter auch nachts unsere Zeit gemeinsam verbracht. Manchmal glaube ich, dass der alte Zech das wusste. Warum sonst hätte er Noah direkt ins Zimmer nebenan packen sollen? Noah hat sich die Jahre, die auf unsere gemeinsame Zimmerzeit folgten, ein Zimmer mit Luca geteilt. Die beiden sind sehr enge Freunde geworden. Eigentlich lustig, wenn ich mich daran erinnere, wie eifersüchtig Noah anfangs auf Luca war. Der war in Wirklichkeit aber zu jener Zeit total in Julia verliebt. Heute lachen wir immer mal wieder herzlich darüber, denn eigentlich war diese Eifersucht mit dafür verantwortlich, dass Noah mir endlich seine Gefühle offenbart hatte. Er behauptet zwar immer, er hätte das so oder so bald getan, aber da bin ich mir nicht sicher.
Ich gehe die letzten Stufen empor in die Dachgeschosszimmer. Die letzten Jahre waren wir im F-Trakt, einem kleinen abgetrennten Oberstufenbereich. Ich gehe noch einmal durch mein Zimmer, und schaue, dass ich auch wirklich nichts vergessen habe einzupacken.
Dann zieht es mich wie automatisch in den D-Trakt. Hier hatten Noah und ich unser gemeinsames Zimmer. Noch heute erinnere ich mich an eine Situation, als ich blindlings morgens in unser Bad gestapft bin, und Noah splitterfasernackt unter der Dusche stand.
Das verwinkelte Zimmer wirkt heute so viel kleiner als früher. Damals war es beinah meine ganze Welt. Weil er darin war.
Ich kann ihn in diesem Moment hinter mir spüren, ohne mich umzudrehen. Und ich rieche seinen Duft, noch ehe er sanft meinen Hals küsst.

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