somewhere in between

Kapitel 55: Noah

"Vergebung ist etwas, auf das man hoffen darf, wenn man einen Fehler gemacht hat. Sie müssen also nicht auf die Vergebung Ihres Vaters hoffen. Es gibt nichts, das er Ihnen vergeben müsste. Vielmehr müsste er sich bei Ihnen entschuldigen."
Ich seufze laut.
Frau Wedel und ich haben dieses Thema immer wieder, und mein Kopf begreift diese Dinge inzwischen. Ich weiß, dass mich keine Schuld trifft an dem wie meine Eltern auf meine Sexualität reagiert haben. Mehr noch, trifft mich keine Schuld am Charakter meines Vaters, oder an einer Kindheit, die oft lieblos war. Ganz im Ernst, mein Kopf kann das alles logisch nachvollziehen. Aber mein Herz. Das hinkt wie immer hinterher.
"Vielleicht kann ich aber ja irgendwann auf Colins Vergebung hoffen", sage ich leise.
"Nicht in der Art, dass er mich zurück nimmt", sage ich hastig, weil ich das Gefühl habe, dass ich einen solchen Wunsch gar nicht äußern darf. "Sondern, dass er mich vielleicht nicht mehr hasst."
Und das ist die Wahrheit. Die Vorstellung, dass der Mensch, der mir am meisten bedeutet, mit einem dunklen Gefühl an mich und unsere gemeinsame Zeit zurück denkt zwingt mich regelmäßig in die Knie.
"Es gibt ein Zitat von Goethe, das ich irgendwie sehr mag. In allen Dingen ist hoffen besser als verzweifeln."
Sie lächelt mich warm an. Diese Frau ist manchmal einfach ein Segen für mein kaputtes Herz.

Nach dieser Sitzung gehe ich eine Runde spazieren. Inzwischen ist es wirklich schon ziemlich kalt. Ich trage zum ersten Mal in diesem Jahr wieder einen Schal. Ehrlich gesagt ist es Colin's. Er hatte ihn schon auf dem Einstein. Er ist dunkelgrün und blau kariert, und schon total löchrig. Trotzdem kann ich mir keinen anderen vorstellen. Noch nicht jedenfalls.
Ich weiß, dass ich auf dem besten Weg in ein neues Leben bin. In eines, das mich vielleicht ja zu einem guten Arzt werden lässt. In eines, in dem ich glücklich werden kann. Ich bin aufgeregt vor dem Studienbeginn, der nur noch wenige Tage entfernt liegt. Dass es wirklich geklappt hat kann ich manchmal noch gar nicht glauben. Da ich noch immer nicht gut schlafe, habe ich mir auf Youtube Einführungsvideo zu den Erstsemesterkursen in Medizin angeschaut. Ich möchte vorbereitet sein. Das hilft mir ein bisschen. Außerdem tut es meinem Kopf gut, wenn er beschäftigt ist. Wenn ich über Biochemie oder Anatomie sitze, dann gelingt es mir, Colin in irgendeine unbekannte Ecke meines Gehirns zu verschieben.