Kapitel 5: Noah

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"Lass uns mal nachsehen, ob sie die Torte angeschnitten haben."
Colin nickt, und Hand in Hand steigen wir langsam die Treppe aus dem Dachgeschoss hinunter, ganz so, als wollten wir jeden Schritt noch einmal in uns aufnehmen.
Im untersten Flur tönt schon Musik durch die Hallen. Offenbar beginnt nun langsam der beste Teil des Abends. Julia kommt gerade lachend aus einer der Küchenräume gestolpert. Als sie uns sieht fällt sie uns in die Arme.
"Ich hab euch so schrecklich lieb!" säuselt sie.
Okay, sie hat definitiv schon ne Runde im Champagnerbrunnen gebadet. Zu dritt haken wir uns unter, und betreten den Saal. Einige Tische sind an den Rand geschoben, und im vorderen Bereich wird bereits getanzt. Gerade dröhnt irgendein ABBA Heuler über die Boxen. Zu dritt tänzeln wir in Richtung Bar. Colin und Julia bestellen Sekt, für mich gibt es ein Bier.
Amüsiert schauen wir Colin's Eltern beim Tanzen zu. Allerdings wird deren Performance von der von Luca und unserer Geschichtslehrerin getoppt. Julia lässt sich auch nicht lange aufhalten, und hüpft auf die Tanzfläche. Da kommt Colin's Mum lachend und drehend auf uns zu.
"Oh, so getanzt habe ich lange nicht mehr! Und habt ihr die Torte gesehen?! Ein Traum aus Schokolade! Ihr müsst euch ein Stück holen!" ruft sie begeistert.
Colin nickt lachend. Ich kann es mir nicht nehmen lassen und sage:
"Oh, ich hatte gerade schon Nachtisch", und zwinkere ihm kurz zu. Colin verschluckt sich kurz an seinem Blubberwasser und errötet leicht. Ich grinse, und dann lasse ich mich von seiner Mum auf die Tanzfläche ziehen.

Eine Stunde später lehne ich neben Luca an der Bar. Inzwischen habe ich zugegeben ganz gut einen sitzen. Der alte Zech hat mit mir Whiskey getrunken. Er ist heute echt out of his comfort zone wie mir scheint. Oder er befindet sich direkt mitten drin, das kann auch sein. Jedenfalls ist er gut beschwipst, hüpft über die Tanzfläche und umarmt wild alle möglichen Leute.
Meinen Eltern habe ich glücklicherweise bisher geschafft weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Ein kurzes Aufeinandertreffen zu Beginn des Fests. Da hat mein Vater mir ein Kuvert mit Geld zugesteckt, weil das "Nunmal so Tradition sei". Keine Gratulation oder ein anerkennendes Schulterklopfen. Für die Kohle können Colin und ich uns aber wenigstens Sachen für die Wohnung kaufen. Meine Mutter hat gelächelt, und mir über den Unterarm gestreift. Kurz nur, aber ich habe die Berührung noch Minuten danach auf meiner Haut gespürt.
"Oh man, es isu nu abär echt ein trauriger unu schöner Tag", lallt Luca dicht an mich gelehnt.
Ich bin selbst nicht mehr frisch im Kopf, und nicke nur. Dann nehme ich noch einen Schluck von einem Wodka Tonic. Ich habe in der letzten Stunde irgendwie wild durcheinander getrunken, und das rächt sich langsam.
Die Lichter der Discobeleuchtung flackern vor meinen Augen. Colin tanzt mit Julia. Sein Jacket und die Krawatte hat er abgelegt, sein weißes Hemd am Kragen aufgeknöpft, und seine Haare sind leicht feucht vom Schweiß. Er sieht einfach anbetungswürdig aus. "Was hab ich nur für ein scheiß Glück" denke ich mir, zugegeben etwas selbstzufrieden.
Da kommen die beiden auf uns zugesprungen, und fallen Luca und mir in die Arme, was uns beide etwas aus dem Gleichgewicht bringt.
Kichernd halten wir uns alle aneinander fest.
"Ich so glücklich und so traurig!", ruft Julia da aus, und wir nicken wie im Chor.
"Ich muss pinkeln", murmelt sie dann in ihr leeres Sektglas.
"Same", sage ich, und Arm in Arm taumeln wir in Richtung Flur.
Kaum lassen wir den Festsaal hinter uns, habe ich zum Abschluss offenbar nochmal das große Vergnügen. Meine Eltern stehen an einer der Ausstellungsvitrinen am Flurende, und sehen zu uns her als wir in den Flur treten.
Julia verschwindet in die Toilettenräume, und ich lasse Gnade walten, und gehe langsam auf die beiden zu.
In der Vitrine sind Pokale, Medaillen, Zeitungsberichte und mehr. Auch ein Bericht über Colin und mich ist darin. In der zwölften haben wir zwei in einem Biologie Projekt einen Algorithmus zur Planung von Forschungsprojekten an Organismen entworfen, und dafür eine Auszeichnung der Landesregierung erhalten.
Meine Mutter sieht lächelnd zu mir her. Sie hat bereits den leichten Sommermantel übergezogen. Das Gesicht meines Vaters ist wie meistens eher regungslos.
"Ihr macht euch auf den Weg?" Ich hoffe, dass meine Aussprache noch flüssig ist.
"Ja, wir fahren jetzt", sagt meine Mutter. Ich höre ihre Stimme so selten, dass ich meistens überrascht bin wenn sie spricht.
"Was war das?" fragt mein Vater scharf, und macht eine Kopfbewegung zur Vitrine. Es gelingt ihm einfach nicht, eine Frage einmal in ruhigem Ton auszusprechen.
"Wir haben einen Algorithmus entwickelt der es erleichtern kann ein Forschungsprojekt zu planen. Wenn Biolog*innen oder Mediziner*innen (ich kann sehen, wie ihm mein gendern missfällt) zum Beispiel ein Laborprojekt mit bestimmten Bakterien planen, dann können sie wichtige Parameter in unser Programm eingeben, und der Algorithmus spuckt dann ein Modell aus, das für ihre Untersuchung geeignet wäre."
Mein Vater nickt nur streng. Es bleibt ihm wenig anderes übrig, weil er mich dafür nicht fertig machen kann. Unser Projekt hat nicht ohne Grund einen Landesforschungspreis gewonnen.
"Wer war das Mädchen da?" fragt er nun.
"Julia. Eine Freundin."
"Sie sieht nett aus."
Ich spüre ein unangenehmes Gefühl im Magen, und bekomme eine leise Ahnung davon, wohin das hier hinaus läuft.
"Sie ist nett", sage ich knapp.
Mein Vater nickt anerkennend.
"Geht ihr aus, sie und du?", fragt er schließlich.
Ich muss kurz auflachen. Meine Mutter sieht nur noch stumm zu Boden.
"Ich bin immer noch schwul", sage ich leichtfertig. Ich bin gerade dankbar für den Alkohol in meinen Adern.
Die Gesichtszüge meines Vaters verhärten sich noch mehr. Ich denke, es ist Zeit zu gehen.
Ich nicke kühl, wende mich kurz meiner Mutter zu und sage an sie gerichtet: "Danke dass du da warst."
Dann drehe ich mich um, und gehe in Richtung des Ballsaals. In meiner Brust zeichnet sich nach langem wieder einmal ein Gefühl ab, das ich ewig nicht mehr gespürt habe. Eines, das mich an früher erinnert, an die Zeit, als ich mich in Noah verliebt habe. Das Gefühl, das sich wie ein Elefant auf meine Brust setzt und mir auch nach all dieser Zeit, immer noch einen Kloß im Hals hervorruft. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, als ich ihn hinter mir rufen höre.
"Sie wäre aber die richtige Wahl für dich, Junge!"
Ich schnaube verächtlich. Ein Teil in mir, der würde am liebsten umdrehen, und ihm mit meiner Faust mitten ins Gesicht schlagen.
"Denk doch an deine Zukunft!" schreit er, als ich stehen bleibe. Ich merke, wie satt ich es habe. Wie satt ich ihn habe.
"Was hält dich denn davon ab es zu versuchen?" Er klingt zum ersten Mal beinah liebevoll, weil er sich offenbar an eine letzte Hoffnung klammert.
Da drehe ich auf der Stelle um, gehe mit schnellen Schritten auf ihn zu. Ich habe keine Angst mehr vor dir, alter Mann. Ich bleibe knapp vor ihm stehen. Ich bin ihm körperlich inzwischen längst ebenbürtig. Ich lehne mein Gesicht seinem entgegen.
"Dass sie einfach nicht so einen prächtigen Schwanz wie mein Freund hat. Das hält mich davon ab" sage ich leise.
Er atmet scharf die Luft ein, und es ist gut möglich, dass es das war. Dass ich ihn heute vielleicht zum letzten Mal sehe. Und mit dieser Ahnung wende ich mich wieder ab, und ich spüre, das wäre okay für mich.

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