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Fünf Jahre zuvor ...

„Hayden, ich liebe dich wirklich sehr, aber ich schwöre dir, wenn du deinen schwulen Arsch nicht in einer Minute hierher schwingst, dann wird es heute Tote gehen."
Ich liebe dich auch - sehr. Ich hab es dir nie gesagt, aber ich weiß, dass du es trotzdem fühlst. Wenn nicht du, wer sonst?
„Gib mir fünf."
„Ich geb dir zwei und keine Sekunde länger."
Zwei Minuten. Länger hatte hatte ich also nicht mehr, um mich in meine vorzeigbare Maske namens Hayden zu quetschen. Ich habe meinen Freunden - allen voran meiner besten Freundin Lilly - versprochen, mitzukommen. In letzter Sekunde absagen ist nicht, auch die besten Freunde sind nicht bis ins Unendliche strapazierfähig. Also verließ ich exakt eine Minute und 59 Sekunden später mein Zimmer, bereit für den heutigen Abend. Bereit, die Erwartungen anderer - in diesem Fall meiner Freunde - zu erfüllen. Wobei lediglich Lilly wirklich sicher meine Freundin war. Der Rest der Truppe war eine zufällige Zusammensetzung einzelner Individuen, die den gleichen Studiengang gewählt hatten. Eine gemeinsame, akademische Ausbildung verband uns, viel mehr jedoch nicht. Man konnte es eine Unifreundschaft nennen, wie sie im Lehrbuch zu finden wäre. Nachdem wir alle unseren Abschluss haben, würden sich unsere Wege früher oder später sicherlich wieder trennen.
Das redete ich mir zumindest ein.
Warum sollten sie ohnehin an meiner Seite bleiben, wenn ich keinen Zweck mehr erfüllen würde?
Gedanken wie diese waren normal für mich. Ich hatte es nicht anders gelernt und ich wusste mittlerweile, damit umzugehen. Oder eben sie zu ertragen und mich unterzuordnen.
Ich blickte Lilly an, die schöner nicht sein konnte. Neben ihrer unglaublich weiblichen Figur, die sie wie immer perfekt in Szene setzte, war ihr schwarzes, langes Haar heute gelockt und ein dezenter Lippenstift zierte ihre Lippen. Neben all den Oberflächlichkeiten war sie die reinste und schönste Seele die ich kannte. Gleichzeitig war sie die einzige Person, deren Unterstützung ich mir zu jeder Zeit sicher sein konnte. Was auch passieren würde, Lilly wäre bei mir. Sie mochte mich unabhängig von meinen Qualitäten, sie blieb nicht nur bei mir, weil sie mich benutzen wollte.
Sie liebte mich und ich war dankbar für diese tiefe Verbundenheit.
Bei ihr konnte ich Hayden sein.
Hayden, der seine Probleme aus der Vergangenheit hatte.
Hayden, der vor so vielem Angst hatte und ständig an den Absichten anderer zweifelte.
Hayden, der wahnsinnige Angst hatte, verlassen zu werden und deswegen immer seine Bedürfnisse unter die der anderen Stellte.
Hayden, der das Gefühl hatte, immer Leistung zu bringen, um eine Daseinsberechtigung zu erhalten.
Hayden, der glaubte, nie genug zu sein.

„Das waren fast zwei einhalb Minuten Hay."
„Ich hab nach exakt zwei Minuten meine Tür geöffnet, du hast nie gesagt, ich müsste in dieser Zeit auch den weiten Weg durch meine 30-quadratmeter-Wohnung zurückgelegt haben." Ich schürzte die Lippen, weil Lilly ihre Augen theatralisch verdrehte und sich zur Tür wandte.
„Wenn du nicht mit willst, dann bleib hier. Die anderen werden nicht wütend sein" ihre Stimme nahm einen sanften Unterton an. Sie wusste, dass ich heute keine Energie zum Feiern hatte. In letzter Zeit war ich generell lieber alleine. Die letzten Monate waren nicht einfach.
„Ich kann nicht wieder absagen. Ich war die letzten Wochen nie dabei, irgendwann werden sie mich nicht mehr mögen. Ich schaff das schon, ist ja nur ein Abend" versicherte ich ihr.
Tatsächlich ging ich heute nur auf die WG-Party eines unserer Kommilitonen, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte. Ich wollte Teil von all dem sein, ich wollte Anschluss und Freunde. Und meine Freunde erwarteten, dass ich heute komme also schluckte ich mein Bedürfnis heute zuhause zu bleiben runter und setze mein Mir-geht-es-blendend-Lächeln auf, das unechter nicht sein könnte. Lilly erkannte das, sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen prüfend an.
„Auf einer Skala von eins bis zehn, wie gerne würdest du daheim bleiben?"
„Zwölf" antwortete ich, während ich in meine Schuhe schlüpfte und dann an ihr vorbei ging.
„Hayden"
„Lass uns gehen, die anderen warten. Wird sicher super heute"
Ich nahm ihre Hand und zog sie hinter mir aus meiner Wohnung. Je länger wir sprachen, desto größer wurde mein Bedürfnis einfach hier zu bleiben. Meine soziale Batterie hatte an Leistung verloren - wobei das eigentlich nicht stimmte. Meine Mutter saugte in letzter Zeit wieder übermäßig viel Energie aus mir heraus. Das hat sie lange nicht getan, weshalb ich fast ein halbes Jahr lang meine Hayden-Scharade aufrechterhalten konnte, ohne zu krepieren. Ich habe es aufgegeben, anderen erklären zu wollen, was in mir vor geht. Für andere waren meine Gedanken trivial, meine Ängste unbegründet - also behielt ich meine Gedanken für mich und fügte mich den anderen.

Es ist okay sagte ich zu mir. Ich darf mich nicht so anstellen, andere sind schlimmer dran als ich.
Wir waren noch keine zehn Minuten auf der Party und ich hasste bereits jede Sekunde davon. Ich fühlte mich - wie immer wenn ich unter Menschen war - beobachtet, beurteilt und verspottet. Ich hatte immer das Gefühl andere würden jeden meiner Schritte beobachten und bewerten, über mich urteilen ohne, dass ich es beeinflussen konnte. Ich musste mich anpassen, um nicht aufzufallen und gab mein Bestes, einfach mit der Menge eins zu werden.
„Hier Mann, nimm dir einen Becher" sagte Lucas, einer meiner Freunde. In seinen Händen hielt er zwei Plastikbecher mit Hochprozentigem. Ich bedankte mich bei ihm, obwohl ich Alkohol hasste. Ich starrte mein Getränk kurz an und brachte es hinter mich. Ich trank selten Alkohol, weil SIE ihn so oft trank. Ich hatte Angst, ebenfalls die Kontrolle zu verlieren.
Wenig später wollten meine Freunde, dass ich bei einem Trinkspiel mitspiele. Also spielte ich, obwohl ich diese Spiele hasste.
Rosalie, eine weitere Freundin aus meiner Clique forderte mich zum tanzen auf, also legte ich meinen Arm um sie, obwohl ich es hasste auf Parties zu tanzen, weil mich dabei alle beobachten konnten.

Ich mochte meine Freunde, aber diese Feiern machten mir Angst. Aber ich wollte sie nicht verlieren, also kam ich heute hierher. Man muss das tun, was andere von einem verlangen sonst wird man ... naja - man verliert andere. Nichts anderes wurde mir von klein auf beigebracht. Ich wollte nach Hause, mir gute Musik anmachen und lesen. Oder einen langen Spaziergang machen, weil es heute eine klare und relativ milde Nacht war. Ich spürte, wie mein Körper sich plötzlich erschöpft anfühlte, also entschuldigte ich mich bei meinen Freunden und durchquerte die Menge in Richtung Balkon.
Fünf Minuten durchatmen, dann würde es schon wieder gehen.
Es war noch nicht einmal Mitternacht, die Leute würden reden, wenn ich jetzt schon ging.
Es war oft wie heute. Meine Bedürfnisse und die der anderen standen in einem umerbitterten Kampf und am Ende war ich nicht in der Lage, für mich selbst einzustehen und einmal das zu tun, was mir in einem Moment wirklich gut getan hätte. Aber das war okay, immerhin war ich so nicht alleine. Ich musste mich einfach den anderen anpassen, dann würden sie mich nicht verlassen.
Gefangen in meinen Gedanken - wie so oft - lehnte ich mich an das Geländer des zum Glück leeren Balkons und spürte, wie ich endlich für einen kurzen Moment durchatmen konnte. Ich sammelte mich, griff meine ganzen bescheuerten Gedanken und stopfte sie mit all meinen Gefühlen zurück in ihre Kiste und verschloss diese ganz tief in mir. Ich genoss die milde Herbstluft und ließ meinen Blick über die Lichter der Stadt schweifen. Die Ruhe meiner Umgebung durchströmte mich, sie erdete mich und wappnete mich dafür, noch ein paar Stunden durchzuhalten.

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt