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Ich stieß mich vom Geländer ab um wieder zurück zu meinen Freunden zu gehen, als mir im Eck eine mir gänzlich unbekannte Gestalt auffiel. Die meisten auf dieser Feier kannte ich, das Gesicht dieses Typen hatte ich jedoch noch nie gesehen. Es war mir unangenehm, dass ich ihn nicht bemerkt hatte, also ignorierte ich ihn und lief an ihm vorbei.
„Willst du weg von hier?"
Ich stoppte.
Ein Gefühl von Panik kam hoch, welches ich jedoch sofort wieder unterdrückte.
„Entschuldige?" fragte ich, obwohl ich ihn bestens verstanden hatte. Ich wollte beiläufig klingen, konnte aber das leichte Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken.
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber ich hab dich vorhin drinnen gesehen. Jeder deiner Freunde hatte Spaß, außer dir - hab ich recht?"
„Ich weiß nicht wovon du redest. Ich bin mit meinen Freunden hier, natürlich hab ich Spaß." log ich. Ich war entrüstet - einerseits weil ich es anmaßend fand, dass ein Fremder so einfach Behauptungen aufstellte. Andererseits war ich schockiert, dass er scheinbar erkannt hat, dass ich anderen etwas vorspiele.
Was also, wenn alle anderen meine Scharade auch längst erkannt haben?
Wieder Panik.
„Als du eben hier raus gekommen bist war die Anspannung in deinem Körper förmlich spürbar. Ich dachte schon, du stürzt dich gleich vom Balkon" führte der Fremde weiter aus. Vom Balkon stürzen fühlte sich plötzliche ziemlich verlockend an.
„Ich weiß nicht, was dein Problem ist, aber ...-."
„Ich kenne die Zeichen. Ich hab sie selbst lange ignoriert."
Ich wollte einfach gehen.
„Beantworte mir nur eine Frage, dann lass ich dich in Ruhe. Warum bist du hier, wenn du offensichtlich wo anders sein willst?"
Die Frage traf mich wie ein Messer, das mir jemand in meine Brust gerammt hatte. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Flucht? Nein, das wäre irgendwie doch albern. Ehrlichkeit war eigentlich keine Option. Er hat mich jedoch wie durch ein Wunder einfach so durchschaut. Es war meine Schuld. Ich dachte, ich wäre alleine und habe meine Fassade für einen Moment fallen lassen.
Schwäche.

Er kannte mich nicht und irgendwie reizte er mich, ich wusste zu diesem Zeitpunkt nur nicht, ob im positiven oder negativen Sinn.  Es gab mir dennoch den Mut, ihm doch eine ehrliche Antwort zu geben. Ich spürte eine Verbundenheit, was alles andere als logisch und selbstverständlich für mich war.
„Weil meine Freunde es erwarten. Ich bin für meine Freunde hier. Du hast Recht, ich will hier nicht sein. Aber was soll ich sonst tun? Meine Freunde sind hier. Ich gehör zu meinen Freunden also muss ich auch hier sein."
„Du glaubst, du musst hier sein. Das musst du aber nicht."
Er brachte  mich aus dem Konzept. Panik verwandelt sich in Wut - was wusste er schon? Ich schnaubte abfällig und setzte mich wieder in Bewegung. Flucht schien plötzlich doch gar nicht mehr so albern. Das Gespräch war beendet.
„Lass uns an einen Ort gehen, an dem du lieber wärst. Ehe die anderen merken, dass du weg bist sind wir wieder hier - versprochen."
Was wusste er schon?
Wut verwandelte sich in ein Gefühl, das ich nicht greifen konnte. Die Verwirrung über die Worte des Fremden und meine plötzlichen Stimmungsschwankungen entzündeten so große Zweifel, dass ich erneut stehen blieb. Etwas in mir drängte darauf, diesem Typen zu folgen - überall würde es besser sein als hier. Ich hasste diese Parties. Ich hasste Alkohol. Ich fühlte mich erschöpft. Erschöpft vom sozialen Druck und meinen eigenen Gedanken.
Also nickte ich stumm und lief los. Ich wusste nicht ob er mir folgte aber lief durch die Menge hindurch, verließ erst die WG und dann das Gebäude. Als es allmählich ruhiger wurde hörte ich Schritte hinter mir.
Er folgte mir.
Ich lief ein paar Minuten, ohne mich umzusehen bis wir im Park angekommen waren. Weitere Minuten später kam ich an einem kleinen See mitten im Park an, den ich bisher nicht kannte. Ich war hier aufgewachsen, ich war hundert mal in diesem Park - dennoch war ich in den letzten 24 Jahren nicht einmal an diesem See. Ich erblickte eine Bank, die verlassen zwischen Bäumen stand, direkt am Ufer.
Wie ein Wunder, das ich gerade gebraucht hatte.
Ich setzte mich. Der Mond spiegelte sich in der Wasseroberfläche, ich beobachtete die kleinen Wellen, die sich ihren Weg durch das Wasser bahnten. Wellen kamen. Wellen gingen und in mir machte sich allmählich wieder ein Gefühl der Beruhigung breit.
Ein weiterer Punkt auf der Liste, wieso ich gerne alleine war.
Wobei ich gerade gar nicht alleine war. Der Fremde kam mir dennoch alles andere als Fremd vor.

„Geht's dir besser?"
ich nickte.
Wir sprachen nicht. Wir sahen uns nicht einmal an. Wir saßen einfach da und beobachteten das Wasser - es war friedlich und keines Wegs unangenehm. Ich konnte in diesem Moment einfach sein, dachte an nichts, fühlte mich nicht im geringsten beobachtet von dem Typen, dessen Namen ich nicht kannte.
Der Frieden wurde erst zerstört, als mein Handy in der Hosentasche vibrierte. Die Vibration erschütterte mich bis auf's Mark und ich fühlte sofort wieder die Erschöpfung in mir. Meine kleine Heile-Welt-bubble war zerplatzt.
Wo bist du? Schrieb Lilly und fügte für meinen Geschmack zu viele Fragezeichen hinzu.
Ich steckte mein Handy weg und wandte mich dem Typen zu, um ihm zu sagen, dass wir zurückgehen sollten, doch die Worte kamen nicht aus meinem Mund. Ich sah ihn zum ersten Mal bewusst an und unsere Augen trafen sich. Es war dunkel aber was ich erkennen konnte war eine Tiefe, wie ein Ozean. Sekunden vergingen, vielleicht sogar eine Minute, in der ich mich nicht von diesen Augen lösen konnte, die mich einfach ansahen. Er sah mich und ich wartete darauf, mich beobachtet zu fühlen doch es geschah nichts.
Es fühlte sich an, als würde die Welt für einen kurzen Moment still stehen. Sie drehte sich erst wieder langsam weiter, als er, ohne seinen Blick zu lösen, in die Richtung nickte, aus der wir kamen.
Also gingen wir - viel schneller, als es mir lieb war - zurück in meine persönliche Hölle. Wobei der Begriff Hölle nicht das richtige Wort war. Ich hatte einen anderen Ort, der schlimmer war, als das hier.
Die Stimmen wurden lauter, ich spürte den Bass der Musik in meinem Körper und plötzlich waren wir wieder mitten im Gedrängel. Lilly tauchte in meinem Blickfeld auf und ehe ich zu ihr rüber ging drehte ich mich zu dem Fremden um. Ich wollte mich Bedanken, wollte seinen Namen wissen.
Doch wieder blieb ich stumm.
Er war nicht mehr hinter mir.

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt