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Von diesem Tag an war Ezra unser +1 in der Gruppe. Er kannte hier niemanden, also brachte David ihn meistens mit. Rosalie versuchte natürlich ihr Glück bei ihm, musste aber schnell feststellen, dass Ezra eine harte Nuss war, die es ihr nicht wert war zu knacken. Je besser ich den Größeren kennenlernte, desto faszinierter war ich von ihm. Nicht nur seine enorm ausgeprägte emotionale Intelligenz, die mir bereits auf der WG-Party auffiel, er war zudem extrem aufmerksam, zuverlässig und selbstbewusst. Er vertrat seine Meinung und tat das, worauf er Lust hatte - trat damit aber zu keinem Zeitpunkt irgendjemandem zu nahe. Ich wünschte, ich könnte mir eine Scheibe von ihm abschneiden. Dieser Kerl war mit so viel positiver Energie und Zuversicht gesegnet, dass es mich regelrecht blendete.
Wir saßen gerade zusammen bei unserem Montags-Meeting in der Bibliothek, als mein Handy auf dem Tisch vibrierte. Der Bildschirm zierte den Namen meiner Mutter, weshalb ich unterbewusst den Atem anhielt und suchte ganz automatisch Blickkontakt zu Lilly, die sofort begriff. Sie war die einzige am Tisch, die meine Mutter kannte und alles was damit verbunden war.
Ich drückte den grünen Hörer, während ich aufstand und ein paar Meter von der Gruppe weg ging.
„Hi Mom"
„Hallo mein Schatz, ich dachte schon du gehst nicht ran. Du meldest dich ja nie, da dachte ich, ich ruf mal an" ertönte ihre Stimme am anderen Ende der Leitung.
Man könnte ein Gespräch auch ohne einen Vorwurf beginnen.
„Entschuldige, das Semester ist ganz schön stressig. Wie geht's dir?"
„Ach du weißt ja wie das ist ...." ab diesem Moment verlief das Gespräch wie immer: Sie erzählt eine halbe Ewigkeit von sich, ihrem Partner und der Arbeit und ließ dabei kein Detail über das Leben jedes Familienangehörigen aus, den ich kannte. Nur eine Person war nicht Thema. Ich. Ich war für meine Mutter ein Ventil, ein bester Freund und eine Art Kummerkasten, nicht aber ihr Sohn. Mein Vater trennte sich, als ich klein war und seitdem waren meine Mutter, mein älterer Bruder und ich zu dritt. Weil Sie immer arbeiten war, um uns über Wasser zu halten mussten wir früh lernen, selbständig zu sein. Während mein älterer Bruder tun und lassen konnte, was er wollte - war ich immer die Person, die funktionieren musste. Ich kochte für uns beide, half im Haushalt, tat mein bestes gut in der Schule zu sein. Ich nahm diese Rolle ein - oder wurde viel mehr in diese rein gedrückt - und seither war es selbstverständlich, dass ich funktionierte. Hayden kam schon klar. Also bekam ich als Person nie viel Aufmerksamkeit, aber dafür umso mehr Verantwortung.
„Achso, bevor ich es vergesse, bringst du bitte an Weihnachten einen Nachtisch mit? Und wäre gut, wenn du schon nachmittags kommen würdest, dann kannst du mir bei den Vorbereitungen helfen."
„Okay, Mom. Was bringt Jaden mit?"
„Du weißt doch, dass das nicht so sein Ding ist Schatz. Er kommt dann am Abend dazu".
Ich liebte meinen Bruder Jaden über alles. Aber er war nunmal Mom's Nummer eins. Natürlich wurde von ihm nicht verlangt, zu helfen oder etwas vorzubereiten. Seine bloße Anwesenheit ehrte uns ja bereits. Ich schluckte den Ärger runter, startete einen vergeblichen Versuch, etwas aus meinem Leben zu teilen.
„Weißt du, in der Uni haben wir gerade ..."
„...Oh Hayden, du weißt doch, dass ich von sowas keine Ahnung habe. Ich muss auch langsam weiter, meine Sendung beginnt gleich"
Keine 30 Sekunden später war das Gespräch beendet und ich spürte förmlich, wie mir in diesem kurzen Gespräch gefühlt 5 Jahre meiner Lebenskraft ausgesaugt wurden.
Wie ferngesteuert ging ich zu unserem Tisch, entschuldigte mich kurz und lief zu den Toiletten.
Atmen .
Ich spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Meine Hände waren auf dem Waschbecken aufgestützt, zittrig, mein Kopf hing schlaff nach vorne.
Atme, Hayden. Das Gespräch war okay, sie war nicht betrunken.
Es war Tatsache, dass es ein gutes Gespräch war. Aber es nagte an mir, dass ich für meine Mutter als Person unsichtbar war. Sie fragte nie wie es mir geht, oder wie es bei mir läuft - weil sie davon ausging, dass ich okay war. Sie erwartete, dass ich sowieso immer funktionierte. Das hatte ich bereits über 20 Jahre lang. So konnte sie arbeiten, an den Wochenenden weggehen und ihr Ding durchziehen, während sie die 12 Jahre meiner Schulzeit nicht bei einem Elternabend war und seit der Mittelstufe nie wieder ein Zeugnis von mir sehen wollte. Kleinigkeiten, würde sie sagen, schließlich ging ja alles gut.
Ich wünschte mir einfach ein Elternteil, bei dem ich Kind sein konnte. Mein Vater hat uns aus seinem Leben gestrichen und meine Mutter sah nur meinen Bruder. Ich war eifersüchtig, wenn Lilly mit ihrer Mutter einen Mutter-Tochter-Tag machte oder wenn Lucas meckerte, dass er jeden Sonntag mit seinem Vater zum Fußball musste.
Obwohl ich es die meiste Zeit einfach ertrug, gab es auch Zeiten, wo es mich wahnsinnig verletzte. Und dann war ein Telefonat wie dieses Grund genug, kurz vor einem Heulkrampf zu stehen. Ich wollte einfach jemanden, dem ich von meinem Tag erzählen konnte. Der mich aufmunterte, wenn ich traurig oder gestresst war.
Der mir sagen würde, dass alles gut ging.
Ich atmete schwer, meine Augen waren geschlossen und ich redete mir ein, alles wäre okay.
Ich bin okay. Alles ist gut.

„Willst du drüber reden?" ertönte eine Stimme zu meiner Rechten. Ich richtete mich im Bruchteil einer Sekunde auf und sah Ezra direkt in die Augen.
Dieser Kerl hatte auf jeden Fall ein Talent dafür, sich geräuschlos anzuschleichen. Ist der ein Spion oder so?
„Mir geht es gut." log ich und setzte mein gewohntes Fake-Lächeln auf. Ich wusste aber mittlerweile, dass er aufmerksamer war, als die anderen und Lügen keinesfalls Erfolg versprachen. Also verblasste mein Lächeln wenige Sekunden später wieder. Ich seufzte.
„Ich weiß wir kennen uns noch nicht lange, aber ich bin hier ... okay?"
In mir riss etwas. Aber so waren sie anfangs immer. Erarbeiten sich dein Vertrauen, sind nett und du öffnest dich, fühlst dich endlich von jemandem gesehen. Irgendwann verlieren sie ihr Interesse und lassen dich fallen. Weil du ein Zeitvertreib bist, nichts weiter. Und ich blieb zurück und verlor wieder einen Freund, den ich ins Herz geschlossen hatte. Distanz wahren ist mein Schutzmechanismus geworden. Bei Ezra war das plötzlich gar nicht mehr so leicht.
„Ezra, hör auf ständig zu fragen, ob alles okay ist. Wirke ich auf dich irgendwie labil, oder warum fragst du ständig nach?" platze es aus mir etwas zu forsch heraus. Ezra runzelte die Stirn.
„Du bist Aufmerksamkeit nicht gewohnt, was?" Er sagte das nicht einmal mit dem kleinsten Unterton an Belustigung und ich wollte so gerne mein Herz ausschütten. Aber nicht hier. Nicht heute.
„Ich bin kein Sozialprojekt" sagte ich ernst und ging an ihm vorbei.
Er hielt mich an der Schulter fest, ich blieb dicht neben ihm stehen.
„Hayden"
„Ezra"
Wir sahen uns wieder einfach in die Augen und ich sah in seinen nichts falsches, nichts verlogenes. Stattdessen dieses tiefgründige blau, das mich nach wenigen Sekunden beruhigte.
Er war ein aufrichtiger Mensch, aber ich hatte dennoch Angst, mich zu öffnen. Ich tat mich schwer, andere mit meinen Themen zu belasten, weshalb ich fast alles mit mir selbst ausmachte. Es lag vermutlich daran, dass ich Angst hatte, dass ich für andere ein Ballast wurde. Ich wollte nicht zu anstrengend sein und deswegen fallen gelassen werden. Ich trug mein Päckchen alleine.
„Sag einfach, wenn du bereit bist darüber zu reden. Niemand kann immer stark sein" Der Riss in mir wurde größer. Plötzlich sehnte ich mich nach einer Umarmung.
Ich setzte mich wieder in Bewegung und wir gingen still nebeneinander her zu unserer Gruppe. Als wir gerade noch weit genug weg waren lehnte ich mich ein Stück zu ihm.
„Danke Ez."

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt