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„Meine Mutter ist Alkoholikerin. Schon eine ganze Weile. Sie trinkt nicht, wenn sie zur Arbeit muss aber wenn sie frei hat oder an Wochenenden gibt sie dafür Vollgas. Sie trinkt bis zur Besinnungslosigkeit, flaschenweise Wein. Manchmal auch harten Alkohol. Sie wird dann anders. Wenn sie nüchtern ist, ist es auch schwierig. Ich hab einen älteren Bruder, Jaden und ich liebe ihn wirklich, aber Mum behandelt ihn immer wie einen Goldjungen und mich ... naja, anders. Ich glaube, dass ich für meine Mutter irgendwie .... unsichtbar bin. Sie interessiert sich nicht für mich, meine Freunde oder mein Studium. Sie weiß bis heute nicht einmal, dass ich schwul bin aber hat sich auch nie gewundert, dass ich keine Freundin mit nach Hause gebracht hat. Fuck, das muss sich echt bescheuert anhören. Jedenfalls waren wir sonst nur zu dritt. Mein Dad, oder vielmehr mein Erzeuger, hat uns verlassen als ich vier war und das war eine harte Zeit. Sie war arbeiten und hat sich in ihr eigenes Leben zurückgekämpft. Und wir liefen wohl irgendwie nebenher. Ich hab mich früh um alles gekümmert und war für sie da. Ich glaube ich war 9 als ich ihr das erste Mal einen Rat gegeben habe. Es ist verrückt. Ich war für sie ein Freund, manchmal vielleicht auch eine Elternrolle. Ich glaub ich war nie wirklich ihr Kind. Und heute ist es eher so, dass sie einfach denkt ich komme sowieso zurecht. Deswegen fragt sie nie. Wenn ich aber mal etwas tue oder sage, was sie nicht gut findet, werde ich gewissermaßen verstoßen. Als ich jünger war hat sie, wenn sie betrunken war, nachts Nachrichten unter meiner Tür durchgeschoben. Ich würde sie nicht lieben und nur brauchen, wenn ich etwas wollte. Das hat sie heute wieder gesagt. Und irgendwie ... hat mir das den Rest gegeben. Ich musste weg. Sorry, das war jetzt ganz schön viel Mist."
Ich fühlte mich nackt vor Ezra, der seit einer halben Stunde neben mir saß, kein Wort sagte und einfach meine Hand hielt. Und genau das machte mich immer nervöser. Warum muss er nur so verboten gut aussehen UND auch noch so verdamt selbstlos sein um sich an Heiligabend an einem dunklen See meinen Scheiß anzuhören?
„Es ist kein Mist. Es tut mir leid, dass du das erleben musst Hayden. Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll." Er sah mich an mit undurchdringbarer Miene. „Was brauchst du, Hayden?"
Diese Frage brachte mich zum zweiten Mal an diesem Abend aus dem Konzept. Wie schaffte Ezra es, mit so wenigen Worten so viel Chaos in mir auszulösen? Was brauchte ich? Ich wusste es damals nicht. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Stattdessen sah ich weg, löste meine Hand aus seiner.
Es war zu viel.
Dieses warme Gefühl. Ich konnte es nicht ertragen.
„Ich hab dein Weihnachten versaut" sagte ich, als ich wie ferngesteuert aufstand. Er folgte mir sofort.
„Hayden, tu das nicht. Ich WOLLTE herkommen, erinnerst du dich? ICH habe gefragt, wo du bist. Du hast mich nicht darum gebeten" seine Stimme wurde lauter. Unsere Nähe hingegen wurde schwächer. Ich wollte gehen, oder vielmehr fliehen. Ich wollte diese warmen Worte nicht hören, weil sie mir ohnehin irgendwann wieder genommen werden würden. In Mir braute sich ein Sturm zusammen.
„Es tut mir leid, dass du wegen mir kommen musstest. Ich mach's wieder gut. Wirklich Ezra, ich komm jetzt klar" sagte ich ohne mich umzudrehen.
Seine Hand auf meiner Schulter ließ mich dann doch erstarren. Hitze ging von der Stelle aus, die uns verband.
Innerhalb kürzester Zeit ging Ezra um mich herum, nahm mein Gesicht in seine Hände und presste seine Stirn gegen meine. Mein Atem stockte, als unsere Nasenspitzen nur noch zwei Zentimeter voneinander entfernt waren und ich gezwungen war ihn anzusehen.
Stromschläge zogen sich durch meinen Körper. Herzrasen.
„Sieh mich an Hayden. Es muss dir nicht leidtun. Ich bin FÜR DICH hier, weil ich es WILL. Du darfst deinen Scheiß bei mir abladen okay? Ruf mich meinetwegen morgens um vier Uhr an und ich werde da sein. Egal wann. Kapierst du?" Seine Stimme war ein flüstern, aber eine Bestimmtheit lag darin, die dazu führte, dass ich ihm jedes einzelne Wort glauben wollte. Ich wollte mich so gerne wertvoll und geschätzt fühlen.
„Warum?" fragte ich mit heiserer Stimme. Und Ezra hatte zum ersten Mal, seit ich ihn kannte keine Antwort. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder.
Was wollte er gerade sagen?
Er hielt weiter mein Gesicht fest. Ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen und konnte mir nicht verkneifen, insgeheim mehr zu wollen. Wann war das passiert? Es musste an der Situation liegen. Noch nie hatte ich mich jemandem so nah gefühlt und es machte mir verdamt nochmal Angst, aber gleichzeitig wünschte ich mir, noch näher zu kommen.
Natürlich, er war schließlich nett zu dir. Du bist so dumm und verguckst dich in den erstbesten Typen, weil er nett zu dir ist. Er ist sowieso zu gut. Jemand wie Ezra ist einfach nur nett zu dir, weil er zu allen nett ist. Du bist nichts besonderes.
„Oh Hayden." murmelte er und löste seine Stirn von meiner, drückte meinen Kopf gegen seine Brust und umarmte mich noch einmal fest. ich schlang meine Arme um ihn, wollte die Nähe auskosten, solange mir diese gewährt würde. Es würde das einzige Mal sein, dass wir uns so nah kommen. Sein Herz raste. Aber warum?
Ich vergaß für einen Moment zu atmen, als ich seine Lippen auf meinem Scheitel spürte.
Was zum Teufel war gerade passiert? Warum?
Mein Herz sprang einerseits gleich aus meiner Brust. Andererseits zog es sich schmerzhaft zusammen, weil ich wusste, dass ich zu viel hineininterpretierte.
Er ist einfach nur nett. Er gibt dir Nähe, weil du vorhin ein verdammtes Wrack warst.

Ich kam um Mitternacht wieder bei meiner Mutter an. Sie schlief bereits, denn im Haus war es still geworden. Ezra bestand darauf, mich ein Stück zu begleiten, nachdem ich mich aus dieser warmen Umarmung gelöst hatte. Ich schlich mich in mein Kinderzimmer und wollte schlafen. Ich schlief jedoch erst einige Stunden später, weil mein Herz einfach nicht aufhören wollte zu klopfen.
Ezra. Dieser verdammte Typ.
Ich fühlte mich von Anfang an ihm gegenüber vertraut. Als würden wir uns seit Jahren kennen. Neulich in der Bibliothek, als wir uns einfach ansahen spürte ich bereits, dass er anders war, als meine anderen Freunde. Und heute spürte ich wieder dieses aufgeregte Gefühl, doch es war um ein vielfaches stärker als noch zuvor. Verwechselte ich einfach freundschaftliche Zuneigung mit echten Gefühlen? Ich würde damit auf die Schnauze fliegen, da war ich mir sicher. Also blieb mir nur eins: Ezra mit all den anderen Emotionen in die kleine Kiste in meinem Inneren stecken und ganz tief vergraben. Es würde vorbei gehen.
Ich konnte mich fast schon glücklich schätzen, dass nochmal zwei Tage in meiner persönlichen Hölle vor mir lagen - so hatte ich tatsächlich vor lauter Familiendrama kaum Zeit, an den Brünetten zu denken. Gerade abends, wenn ich auf meinem Zimmer war, klopfte Ezra jedoch vom inneren der Kiste an, in die ich ihn gesteckt hatte. Er schrieb mir. Er wollte sich versichern, dass ich okay war.
Ich war alles andere als okay - spätestens seit Heiligabend sollte er das verstanden haben.

Ich überstand die Feiertage ohne weitere Zwischenfälle. Das lag nicht zuletzt daran, dass meine Mutter an Heiligabend so sternhagelvoll war, dass sie die nächsten beiden Tage verkatert war und nichts trank. Sie erinnerte sich nicht an unseren Streit - oder wollte es nicht. Jedenfalls brachte sie es nicht mehr zur Sprache und ich war fein damit.
Die Zeit zwischen den Feiertagen verbrachte ich, wie wohl die meisten: Ich wusste permanent nicht, welcher Wochentag war, was ich mit mir anfangen sollte und weigerte mich gleichzeitig, etwas produktives zu tun. Immerhin war das alte Jahr fast vorbei - Motivation konnte bis nach Silvester warten. Also verbrachte ich die Tage zuhause in meiner Wohnung, sichtete Serien durch und schlief mindestens 12h pro Tag. Eine verspätete Erschöpfungsreaktion aufgrund der Feiertage. Für mich quasi Business as usual.
Silvester rückte in greifbare Nähe. Wir würden zusammen feiern - wir alle. Lilly stellte ihre Wohnung zur Verfügung und lud unsere Clique - und natürlich Ezra, der mittlerweile fest dazu gehörte - ein, gemeinsam den Jahreswechsel zu verbringen.
Es war der 29. Dezember und draußen lag knapp 10 Zentimeter Schnee. Es war arschkalt. Aber die Sonne schien an diesem Tag, als würde sie das alte Jahr fulminant verabschieden wollen. Ich rollte auf meinem Bett hin und her, weil mittlerweile keine Liegeposition mehr bequem war. Seufzend setzte ich mich auf und griff nach meinem Smartphone, dass seit zwei Tagen auf Dauer-Mute war. Neben den üblichen Benachrichtigungen von Social Media und Nachrichten in diversen Gruppen fiel mir die Nachricht eines gewissen Jemandes auf. Sie beschränkte sich auf das Minimum an möglichen Worten:
Spaziergang?
Da war das leise Klopfen in meiner Gefühlskiste wieder. Ich überlegte kurz, ob ich die Nachricht einfach ignorieren sollte und hatte mein Smartphone fast aus der Hand gelegt, als eine weitere Nachricht kam.
Vitamin D wird dir gut tun. Die Feiertage waren sicher anstrengend. Bin in 10 Minuten da - sei fertig.
Das Klopfen aus der Kiste wurde lauter. Es klopfte im Einklang mit meinem Herzen, das direkt aufgeregt seine Frequenz erhöht hatte. Also sprang ich aus dem Bett, zog mir einigermaßen vorzeigbare Kleidung an und war gerade dabei, meine Winterstiefel zu schnüren, als es an der Tür klingelte. Durch meinen Türspoin starrte ich Ezra ein paar Sekunden an bevor ich die Tür öffnete. Während ich das tat kam mir plötzlich ein Gedanke, der mich skeptisch werden ließ.

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt