Die Wochen rannten schneller als mir lieb war.
Plötzlich hatten wir Weihnachten. In anderen Worten: Drei Tage in meiner persönlichen Hölle.
Zwischen Ezra und mir hatte sich seit dem Abend in der Bibliothek irgendwas verändert. Zuvor war er einfach ein Mitglied unserer Gruppe, das mir oft einfach schon fast ZU aufmerksam war - doch langsam aber sicher öffnete ich mich Stück für Stück. Hunderte Alarmglocken leuchten in meinem Inneren auf.
Dennoch: Ich fühlte mich wohl in seiner Nähe.
Ich freute mich, wenn wir uns sahen.
Es war nicht, wie mit Lilly und er wusste bei Weitem nicht so viel wie sie. Aber er wusste genug, dass er mich mittlerweile wohl ganz gut einschätzen konnte. Er erkannte, dass ich ständig angespannt war und mich immer dem Willen meiner Freunde beugte. Er behauptete sich sei viel zu nett für die Welt und müsste lernen, nein zu sagen.
Irgendwann hatte er mit dieser kleinen Geste dann angefangen. Wann immer er wahrnahm, dass ich angespannter als sonst war, legte er seine flache Hand auf meinen Rücken. Mal nur wenige Sekunden, mal aber auch länger. Viel länger. Und irgendwann es tat ungewohnt gut, von jemandem einfach gesehen zu werden.
Vielleicht würde ich ihm irgendwann von meinen Ängsten erzählen. Vielleicht sogar die Geschichte meiner Mutter. Er wusste bisher nur so viel, dass es schwierig war zwischen uns. Ich war mir nicht sicher, ob es ihn abschrecken würde, alles zu erfahren.
Nur Lilly wusste alles.
Und sie ist wie durch ein Wunder bei mir geblieben. Im Gegensatz zu den meisten. Irgendwas sah sie in mir, was ich mir nicht erklären konnte. Wenn mich jemand fragte, was meine Freunde an mir mochten fiel mir nicht eine Eigenschaft an mir auf, die liebenswert war.
Ich war schließlich nichts besonderes.
„Wenn es zu schlimm wird, dann kannst du jederzeit gehen. Schreib mir, wenn ich dich retten muss" sagte Lilly über Facetime, während sie mir dabei half, ein Hemd für heute Abend rauszusuchen.
„Vielleicht wird es ja halb so wild. Es sind nur Mom, Jaden und ich."
„Was ist mit Stephen?"
„Der ist zu seiner Mutter gefahren." Stephen war die letzten acht Jahr der Partner meiner Mutter. Seine Mutter lebte ein paar Stunden von hier und er verbrachte die Feiertage daher meist bei seiner Familie in der Heimat.
„Oh Gott Hayden zieh das aus. Wo hast du das denn her? Von einem Hipster geklaut?" Sie kritisierte gerade das Hemd, das ich mir gekauft hatte, als ich letzten Sommer kurze Zeit mutig war und mir etwas kaufte, das nicht 0815 war. Es gefiel mir wirklich, bisher traute ich mich jedoch nie, es zu tragen. Offenbar doch ein Fehlkauf. Ich mochte es eigentlich gerne, weil es etwas besonderes war. Es war ein Seidenhemd in Creme mit filigranen, terracotta-farbenen Mustern. Enttäuscht knöpfe ich es wieder auf.
„Hay... oh man sorry. Ich wollte nicht ... wenn es dir gefällt dann trag es. Ich war nur ... überrascht." sie verstand wie immer schnell, was in mir vorging.
„Nein passt schon. Sieht eh blöd aus" sagte ich niedergeschlagen. Es war zu spät, die Unsicherheit war stärker.
„Dave und Ezra feiern mit ihrer kompletten Familie oder?" wechselte ich das Thema.
„Ja. Dave hat erzählt, dass nur Ezra's Eltern nicht kommen aber wohl die restliche Familie von dort. Ich glaube, die haben ein ganzes Restaurant gemietet. Das ist so cool"
„Stimmt" seufze ich, während ich das nächste Hemd anzog.
„Du und Ezra versteht euch gut oder?"
Mein Herz zog sich leicht zusammen. Mehr als es sollte, wenn meine beste Freundin nach einem Kumpel fragte.
„Naja, wir haben uns irgendwie angefreundet" sagte ich möglichst beiläufig.
„Hayden, ich kenn dich. Du freundest dich nicht mal eben so an. Du wirkst entspannter als bei Lucas oder David. Das ist was gutes. Vielleicht wird er ja irgendwann eine männliche Lilly."
„Als ob irgendwer sein könnte wie du" lachte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn als männlichen besten Freund wollte. Vielleicht war es eine andere Art der Anziehung. Es verwirrte mich.
„Stimmt auch wieder. Ich bin schon extrem toll. Vergiss was ich gesagt hatte. Er wird höchstens ein männlicher billiger Abklatsch von mir" prahlte sie.
„Oh, das Hemd ist schick. Fühlst du dich wohl?"
Nachdem das Outfit entschieden war wünschten wir uns schöne Feiertage und legten auf. Meine beste Freundin war für eine Woche zu ihrer Familie geflogen, weshalb wir uns schon vor ein paar Tagen unsere Geschenke gegeben hatten: Sie hatte mir ein schwarzes Lederarmband geschenkt, welches ich gerade umlegte. Ich schenkte ihr einen Pizzaofen. Sie kochte gerne, regte sich jedoch immer auf, dass ihr selbstgerechter Pizzateig im Backofen nicht richtig aufging. Natürlich nicht ganz uneigennützig - die nächste Pizza-Einladung ließ sicher nicht lange auf sich warten.Ich trödelte auf dem Weg zu meiner Mutter, obwohl es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gerade einmal 25 Minuten waren. Ich zögerte mein Ankommen so weit raus wie es ging ohne, dass es zu offensichtlich war. Heute war Tag eins von drei. Heute war aber gleichzeitig der schlimmste Tag, da wir einfach bei meiner Mom zuhause sein würden. Morgen würde der Rest meiner Familie kommen, weshalb ich durch meine Großeltern, Cousins und Cousinen mehr Abstand zu ihr hatte - wobei auch der Rest meiner Familie nicht leicht war.
Familien haben wohl einfach ihre eigenen Probleme.
Der letzte Tag war nur noch ein Brunch mit meiner Mutter und meinem Bruder und dann war ich wieder frei. Meine Mutter bestand darauf, dass ich Heiligabend bei ihr schlief, also hatte ich einen großen Rucksack dabei, in dem meine Sachen und die Geschenke waren und trug noch einen Korb mit Nachtisch mit mir herum.
Je näher ich meinem Elternhaus kam, umso weniger Lust hatte ich. Mein Atem ging zunehmend flacher, als würde ich einen Berg erklimmen.
Ich nahm einen letzten, tiefen Atemzug in Freiheit ehe ich den Schlüssel in das Schlüsselloch steckte und das Haus betrat. Ich überschritt die Türschwelle und es fühlte sich nicht an, wie Zuhause. Es hatte nichts warmes, willkommenes.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich bereits meine Mutter und Jaden reden. Er erzählte von einem Projekt auf der Arbeit, das er leiten durfte - sein erstes Projekt, eine große Sache. Doch, obwohl ich mich einfach für ihn freuen sollte, war da noch dieses andere Gefühl. Eifersucht. Mum wollte jedes Detail wissen, quetschte ihn regelrecht aus. Also war der Erfolg meines Bruders nur ein weiterer Beweis dafür, wie uninteressant ich war.
„Oh, Hayden Schatz da bist du ja!" rief meine Mutter, als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
„Frohe Weihnachten euch beiden" begrüßte ich die beiden und gab mir dabei größte Mühe, zu lächeln, ohne einen Krampf zu bekommen.
Jaden stand vom Sofa auf und zog mich in eine kurze Umarmung. „Hey kleiner Bruder" sagte er und als er sich von mir löste nahm er mir den Nachtisch ab und ging in die Küche.
Ich folgte ihm.
„Mom wollte nicht, dass ich was mitbringe" begann er, als ich die Tür hinter mir zuzog.
„Ich weiß. Kein Ding Jay. Wirklich. Ich weiß ja, wie es ist." seufzte ich. Er wusste, dass ich es ihm niemals nachtragen würde, dass Mum uns beide ungleich behandelt und trotzdem nutzte er jede Gelegenheit um sich zu rechtfertigen. Auch er hatte seine Probleme mit unserer Situation.
„Also, was hast du gezaubert?" fragte er schließlich.
„Apfel-Tiramisu mit Lebkuchen. Du wirst es lieben."
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After the Storm - Man x Man
RomanceHayden ist gefangen in seinem Leben, das bestimmt wird durch seine vielen Dämonen. Als er in dieser einen Nacht zum ersten Mal auf Ezra trifft, beginnt ein Sturm aufzuziehen. Ein gewaltiger, der sein Leben prägen würde - für immer. Es war nur ein ha...