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Fast schon euphorisch machte ich mich am frühen Abend auf den Weg zu Lilly, um ihr bei den letzten Vorbereitungen zu helfen. Meine beste Freundin liebte Parties - vor allem diese zu organisieren. Natürlich hatte sie Dekoration in sämtlichen Metallictönen gekauft, die es gab. Die Menge reichte, um ein ganzes Haus zu schmücken. Als wir fertig waren hingen Heliumluftballons an den Decken, Lamettavorhänge an der Wand und überall war Konfetti verteilt. Ich machte gerade irgendeine Silvester-Playlist an, als erst Rosalie und wenig später Dave, Ezra und Lucas kamen.
Wir machten Pizza aus ihrem neuen Pizzaofen und tranken Wein. Es war eine Art Party, die sogar ich genoss: Ein kleiner Kreis, gutes Essen, wenig Alkohol. Ich fühlte mich gut und kam nicht ohnehin, immer wieder verstohlen zu Ezra hinüberzublicken.
Wir hatten an diesem Tag kaum gesprochen, aber immer wenn sich unsere Blicke trafen, hämmerte mein Herz von innen gegen meine Brust. Mir war klar, dass die Ezra-Gefühlskiste aufgebrochen war.
„Ladies and Gentlemen, ich bitte Sie sich auf dem Balkon einzufinden, um das neue Jahr gemeinsam einzuläuten" verkündete Lilly theatralisch und wir anderen leisteten Folge, quetschten uns auf ihren kleinen Balkon und warteten die letzten Sekunden, bis die Uhren 00:00 schlugen und das neue Jahr begann. Wir mussten nicht auf die Uhr schauen, um zu wissen, dass es soweit war. Überall um uns herum ertönte ohrenbetäubendes Knallen und überall leuchteten Raketen und Feuerwerk auf.
Es war magisch. Es war wunderschön. Wir umarmten uns, wünschten uns ein glückliches neues Jahr und beobachten das Spektakel um uns herum. Aus Affekt nahm ich Ezra's Hand, da er direkt neben mir stand. Es würde niemand sehen und das Glas Wein machte mich ein wenig mutiger, ein wenn auch nur kleines Risiko einzugehen.
Unsere Finger verschränkten sich und ich bekam Gänsehaut. Gleichzeitig strahlte von unseren Händen eine unglaubliche Wärme in meinen gesamten Körper aus. Glück.
Dann ließ Ezra meine Hand los.
So schnell, wie die Wärme da war kaum nun die Kälte.
Und eine Erkenntnis: Ich hatte seine Signale also falsch interpretiert. Das tat weh.
Wie ein rettender Anker fing Rose an zu meckern, dass es viel zu kalt war und wir gingen wir nach drinnen. So musste ich wenigstens nicht weiter neben ihm stehen.
Wir verlagerten die Feier auf Lilly's Couch. Irgendwann kamen Lucas und Dave auf die Idee, Singstar zu spielen, woraufhin sich unsere Silvesterfeier in eine Karaoke-Party verwandelte. Alle sangen außer ich. Meine Dämonen meldeten sich wieder.
Sing nicht. Sie werden alle heimlich darüber lachen, wie schlecht du bist. Sie beobachten dich um einen Grund zu finden, dich wegzustoßen.
Ich hasste mich selbst für diese Gedanken.
Lilly begriff wie immer meine Lage und fragte, ob ich aus der Küche Snacks holen könnte. Also ging ich, wie immer dankbar über meine beste Freundin in die Küche und begann Chipstüten und allerhand andere Snacks in Schüsseln zu verteilen.
„Brauchst du Hilfe?"
Ezra.
Ich nahm zwei Schüsseln und deutete auf die übrigen beiden. „Nimmst du die beiden mit? Dann haben wir alles, danke" und dann ergriff ich regelrecht die Flucht. Vor Scham. Ich war fast aus dem Raum , als er sagte: „Du hast mir nicht ordentlich zum neuen Jahr gratuliert." ich machte auf dem Absatz kehrt, sah ihn irritiert an. Er kam auf mich zu, nahm meine Schüsseln und stellte sie wieder auf den Tisch. Er lehnte sich an diesen, die Arme vor der Brust verschränkt. Verdammt, zeig doch noch mehr, wie muskulös seine Oberarme sind, du Penner.
„Ezra, ich weiß echt nicht was du meinst, wir haben uns vorhin alle auf dem Balkon ein frohes neues Jahr gewünscht"
„Beruhig dich, ich verlange ja keinen Neujahrs-Kuss von dir" er grinste. Dieses Grinsen. Diese Hitze in diesem Raum. Außerdem hat er mich doch abblitzen lassen, als ich seine Hand genommen habe.
Er breitete seine Arme aus. „Krieg ich eine Neujahrs-Umarmung von dir?"
„Du bist so ein Vollidiot." grinste jetzt auch ich. Er schaffte es einfach, mich aus dem Konzept zu bringen. Und weich zu werden.
Ich war unglaublich verwirrt. Erst lässt er meine Hand nach wenigen Sekunden auf dem Balkon wieder los und dann will er eine Umarmung von mir. Erwachsenes Verhalten war das nicht.
Aber weil ich unbedingt das Gefühl spüren wollte, in seinen Armen zu sein ging ich zu ihm und ließ mich in seine Arme gleiten. Meine eigenen Arme lagen um meinen Oberkörper und ich spürte seine Muskeln unter dem Hemd, das er heute trug.
Wie kann ein Mensch so gut riechen?
„Happy new Year, Ezra"
„Happy new Year, Hayden"
Stille.
Friedliche Stille umhüllte uns und die Welt hörte auf sich zu drehen. Meine Stimmen verstummten und es waren nur noch wir beide.
Ich sehnte mich nach mehr, als einer Umarmung. Unweigerlich kam die Erinnerung an Ezra's Atem, der meine Lippen streift und mein Herz raste. Ich hätte es tun können. Ich wünschte, ich wäre so mutig, den ersten Schritt zu machen. Aber ich hatte Angst. Ich konnte das hier nicht auf's Spiel setzen. Diese Umarmung, die mich so verwirrte und sich so gut anfühlte machte es nicht besser. Ich durfte nicht zu viel wollen, das macht man nicht. Sei dankbar für das, was du bekommst.

Wieder war er es, der den Moment beendete  und sich von mir löste.
Er reichte mir wieder die Schüsseln und nahm sich selbst die anderen beiden, ging dann in Richtung Wohnzimmer. Die Anspannung in der Luft verpuffte und ich war noch verwirrter.
„Heute ist nicht der richtige Moment, um egoistisch zu sein" murmelte er in meine Richtung, schenkte mir ein letztes Lächeln und wir gingen zurück zu den anderen.
Wieder hallten seine Worte nach. Was meinte er mit egostisch? Ich musste an meine drei potenziellen Szenarien denken. Ezra war in gewisser Hinsicht ein Rätsel.
„Man, da seid ihr ja" sagte Dave, als wir den Raum betraten.
„Ihr zwei wart ganz schön lang weg" ergänzte er und wackelte mit den Augenbrauen.
„Boah Dave, wie kann man nur so bescheuert sein, wie du?" nörgelte Rosalie, die wie immer keine Chance ausließ, Dave zu necken.
„Halt die Klappe Rose. Wenn zwei schwule Männer zusammen verschwinden würde jeder diese Schlussfolgerung ziehen."
Alle Augenpaare im Raum richteten sich plötzlich auf Dave, der gerade seinen eigenen Cousin in der Gruppe geoutet hatte.
„Wie taktlos kann man bitte sein?" schaltete sich Lilly jetzt ein, bereit, Dave richtig rund zu machen.
„Beruhigt euch Leute. Meine Sexualität ist kein Ding. Ich bin geoutet seit ich 14 bin" erhob Ezra nun seine Stimme. Er lachte, als er seinem Cousin einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste.
„Den hast du trotzdem verdient, Lieblingscousin." Rosalie schien unterdessen einen Geistesblitz zu haben und mir ging es da nicht anders. Jetzt machten Davids Worte, sie hätte niemals eine Chance bei Ezra auch für sie Sinn. Ich hingegen war irgendwie weniger überrascht als ich vermutet hätte. Ich hatte bereits geahnt, dass Ezra mindestens bi ist. Ein Hetero-Mann würde nie so widersprüchliche Signale senden, wie er es tat. Für mich war es dennoch eine wichtige Bestätigung. Irgendwie war ich erleichtert, dass es ausgesprochen war: Wir waren beide schwul. Und das war vollkommen okay. Mehr als okay.
Die Stimmung erholte sich spätestens, als Lucas lautstark „Don't stop believing" in sein Singstar-Mirko trällerte und eine Oscarverdächtige Performance hinlegte.

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt