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Es war insgesamt ein wechselhafter Abend, aber das schönste Silvester seit langem.
Die anderen gingen gegen drei Uhr geschlossen nach Hause. Ich blieb bei Lilly und wir kuschelten uns zusammen ins Bett, wie jedes Jahr an Silvester. Wir räumten nie in der Nacht auf und hassten uns am nächsten Morgen umso mehr dafür.
„Danke für heute Hay" murmelte sie im Halbschlaf.
„Für dich immer Lilly. Schlaf gut."
Ich war kurz davor, in einen tiefen Schlaf abzudriften, als mein Handy in der Dunkelheit aufleuchtete. Eigentlich wollte ich es nur umdrehen, sah aber, dass ich eine Nachricht von Ezra hatte.
Ist es frech, wenn ich mich für später zu dir nach Hause einlade?
Ich schmunzelte.
Wenn ich ehrlich sein soll: Ja, es ist sogar ziemlich anmaßend.
Die Antwort kam prompt.
Darf ich's trotzdem tun? Ich will einen typischen Hayden-Tag mit dir verbringen.
Hayden-Tag?
Ich starrte die ganze Zeit auf mein Handy, als er tippte.
Ich will mit dir einfach genau das machen, was du morgen sonst alleine zuhause tun würdest. Egal, ob es ein Serienmarathon ist oder du einen echten Marathon läufst. Wobei ich rennen wirklich hasse. Ich will sehen, was du gerne magst.
Meine Brust zog sich zusammen. Was hatte er jetzt schon wieder vor? Vermutlich hatte er gar nichts vor, aber es fiel mir schwer, zu glauben, dass er das alles um meinetwillen tat. Es lag mir nicht, die Worte von anderen einfach hinzunehmen. Ich interpretierte immer unzählige Szenarien hinein.
Ich sagte zu und legte mein Handy mit dem Display nach unten auf den Nachttisch.
War das ein Date?
Badumm.
Badumm.
Badumm.
Wenn das so weiter ging , würde mein Herz das nicht mehr mitmachen. Dauerhaft ein so schneller Herzschlag kann unmöglich gesund sein.

Natürlich ging ich so früh wie möglich von Lilly nach Hause, duschte mich sorgfältiger als nötig und räumte im Eiltempo meine gesamte Wohnung auf. Und trotzdem würde ich ihn nachher begrüßen und sagen, er solle die Unordnung ignorieren - das taten wir schließlich alle, oder?
Ich war komplett überfordert damit, einen Hayden-typischen Tag zu verbringen, wenn EZRA in meiner Nähe war. Also überlegte ich mir unzählige mögliche Tätigkeiten für einen Neujahrestag, während ich dreimal mein Outfit wechselte bevor ich mich einfach in eine Jeans und einen Hoodie schmiss und noch einen Spritzer Parfum auftrug, als es schon an der Tür klingelte.
Authentisch wie immer - jeder trug zuhause am Neujahrestag eine Jeans und Parfum.
Aber das war jetzt nebensächlich.
Er war da.
Ich hätte nicht nervöser sein können. Weil ich vermutlich viel zu viel in dieses Treffen interpretierte.
Ich öffnete die Tür und wurde direkt geblendet von dieser einzigartigen Aura, die der Brünette ohne großes Zutun ausstrahlte.
„Du trägst an Neujahr Jeans? Zuhause? Ehrlich mal Hayden, das ist krank" begrüßte Ezra mich, der selbst eine schwarze Jogginghose und einen Hoodie trug. Ich sag ja, authentisch kann ich.
„Was ist, wenn ich dir sage, dass ich an Neujahr für üblich in die Kirche gehe?"
„Als ob du in die Kirche gehst. Ich kenn dich lange genug um zu wissen, dass wohl sogar der Teufel gläubiger ist als du."
Damit hatte er nicht unrecht. Meine Großeltern waren christlich und haben früher versucht, uns ebenfalls dem Glauben näherzubringen. Ich habe jedoch früh gemerkt, dass das nichts für mich ist. Ich tat mich schwer, an eine Person zu glauben, die von Oben auf uns herab blickt.
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo bereits zwei Tassen Kaffee dampften. Nachdem ich mich rückversichert hatte, ob Ezra Milch und Zucker brauchte setze ich mich zu ihm auf das Sofa.
Schweigen.
Was jetzt?
„Also, was steht heute an?" erkundigte Ezra sich mit einem spitzbübischen Grinsen. Er meinte es ernst.
„Hm ich weiß nicht, hast du auf irgendwas Lust?" versuchte ich dennoch mein Glück.
„Vergiss es. Wir machen heute Hayden-Tag! Was würdest du tun, wenn ich nicht hier wäre?"
Ich schwieg und sah verzweifelt aus dem Fenster. Runter springen? Vermutlich nicht hoch genug.
Es fiel mir unglaublich schwer, vor anderen ehrlich zuzugeben, was ich gerne tun würde. Das Gefühl, jemand könnte mirzuliebe etwas tun löste in mir Unbehagen aus. Ich musste unweigerlich an Situationen zurückdenken, in denen ich jünger war.
Ich wollte einmal, dass meine Mutter zu einer meiner Schulaufführungen kommt. Sie ging nach der ersten Hälfte, in der ich nicht einmal einen großen Part hatte und meinte im Nachgang, dass ich ihr hätte sagen sollen, dass es ein langweiliges Stück ist, dann hätte sie sich die Zeit gespart.
Vermutlich hätte sie lieber getrunken, als ihrem  14-jährigen Sohn zuzusehen. Es gab unzählige Situationen wie diese, die sich in meine Erinnerungen gebrannt hatten. Sie erinnerten mich wieder und wieder daran, dass ich nichts besonderes war.
„Hallo? Erde an Blondi?" Ich war abgedriftet.
„Sorry ... ehm vermutlich würde ich lesen und Musik hören, Serien schauen und später was kochen ... oder so?"
„Okay, also genau in der Reihenfolge. Hast du ein Buch für mich, dass ich auch was lesen kann?"
Und weiter ging es. Kaum einer meiner Freunde wusste, dass ich Mangas las. Einmal bekam ich mit, wie Lucas darüber herzog, dass sich Menschen allen ernstes Bilder ansahen mit Sprechblasen. Ich hatte Angst, er würde mich nicht mehr mögen, wenn ich ihm erzählte, dass ich sie sehr gern mochte. Also behielt ich es für mich. Wie so vieles und mit der Zeit wurde es erstaunlich leicht, diese Fassade zu halten.
„Weißt du, wir müssen nicht ..."
„Gib mir endlich ein Buch und hör auf, dich nach mir zu richten. Ich werd nicht aus der Tür stürmen, wenn du heimlich Gay-Porn liest. Haben wir alle mal gemacht." Ich sah ihn an. Er sah mich an und seine Augen weiteten sich ungläubig.
„Du hast nie ..."
„nie" gab ich zu und konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Endlich hatte ich das Gefühl, das Eis würde langsam brechen und das tat unglaublich gut.
Ich ging zum Schrank, griff nach einem Manga, den ich vor Kurzem beendet hatte und warf ihn Ezra zu. Er beäugte den Band fasziniert.
Dann nahm ich mir einen anderen und setzte mich neben ihm auf das Sofa und begann zu lesen und es war so unangenehm. Diese Stille und meine Blicke die immer wieder überprüften, ob wirklich alles okay war.
Es vergingen keine 5 Minuten, da stupste er mich gegen den Oberschenkel. Kein Problem, ich hatte eh noch keine Seite gelesen.
„Du Hayden ... ich versteh die Handlung nicht. Ist das irgendwie ... falsch rum?"
Er hatte also noch nie einen Manga gelesen, was nicht unüblich ist. Ich prustete trotzdem los - es war so erfrischend, diesen normalerweise so selbstsicheren Kerl mal unbeholfen zu erleben.
„Blätter auf die letzte Seite."
„Bist du dumm? Ich will mich nicht spo..."
„Mach einfach Ezra."
Er tat es und ich erklärte ihm, dass man Manga anders herum las. Ich spürte, während ich sprach seine Blicke auf mir, wie er regelrecht an meinen Lippen hing. Ich hatte mich zu ihm rüber gelehnt und unsere Körper waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ich schluckte meine aufkommenden, flatternden Gefühle herunter und lehnte mich wieder zurück auf meinen Platz, steckte meine Nase wieder in mein Buch und es kehrte eine etwas angenehmere Ruhe ein. Immer, wenn einer von uns seine Position veränderte führte dies unweigerlich dazu, dass sich unsere Schultern oder Knie berührten - schließlich hatte ich nur ein kleines Sofa, das für eine Person vollkommen ausreichend war. Es war nichts besonderes, aber jede Berührung brachte mich mehr aus dem Konzept. Ich gab es schließlich auf, konzentriert zu lesen und blätterte nur noch ein wenig durch die Handlung. Ich würde es definitiv nochmal lesen müssen. Ich fühlte mich hier wie in einer Teenie-Romanze. Fehlten nur noch, dass animierte Funken sprühten, wenn wir uns berührten.
Es wurde langsam dunkel draußen, als Ezra mit seinem Manga fertig war und sich ausgiebig streckte. Er hatte ihn tatsächlich zu Ende gelesen.

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt