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Das Essen verlief unspektakulär, aber ich konnte es nicht unterlassen, den Alkoholkonsum meiner Mutter zu beobachten. Die erste Flasche war bereits leer, als wir uns gegenseitig Geschenke überreichten. Nach der Bescherung war ein weiteres Glas leer und man merkte ihr an, dass sie getrunken hatte. Es war erst 21 Uhr - ich konnte unmöglich bereits jetzt ins Bett.
„Also ich muss dann langsam" sagte Jaden, als er sich langsam erhob. Meine Gesichtszüge entgleisten, weil er gerade dabei war, mich hier alleine zurückzulassen obwohl wir immer zusammen hier blieben.
„Wo gehst du hin?" fragte ich offensichtlich empört.
„Ich geh noch zu Nancy. Ihre Familie feiert kein Weihnachten, daher ist sie alleine zuhause. Ich hab Mum gefragt, deswegen schlafe ich ausnahmsweise heute nicht hier. Wir sehen uns morgen, Hay." sprachlos sah ich meinem großen Bruder hinterher.
Sie hätte es mir niemals erlaubt.
Weihnachten verbringen wir zusammen. Wir drei. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Hätte ich mich widersetzt, hätte ich drei Wochen kein Wort von ihr gehört. Im schlimmsten Falle wäre ich angeschrien worden. Jaden durfte dieses Gesetz offenbar brechen. Jaden durfte alles - er stand über dem Gesetz.
Ich war so entsetzt über diesen Verlauf des Abends, dass ich mir einen Kommentar nicht verkneifen konnte. Es war ein Kleinigkeit, die jedoch reichte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.
„Mum, ich wäre auch lieber heute Abend zu mir nach Hause. Warum hast du darauf bestanden, dass ich bleibe, wenn Jaden geht?"
„Hör doch auf immer aus Kleinigkeiten ein riesen Ding zu machen. Jaden hat eine Freundin und du würdest ohnehin nur alleine daheim sitzen. Ich weiß gar nicht, wieso du euch beide immer vergleichen musst. das ist kindisch, Hayden."
Für mich war es aber nunmal ein großes Ding.
Die Stimmung war ruiniert, also beschloss ich den Abend nun doch zu beenden.
„Ich geh hoch, wir sehen uns morgen früh Mum."
Ich war bereits halb aus dem Raum, als ich meine Mutter etwas murmeln hörte. Ich hasste mich dafür, dass ich mich wie selbstverständlich umdrehte und fragte, was sie gesagt hatte.
Ich wollte es doch nicht mehr wissen.
Bitte, Mum, hab meine Frage einfach überhört.
„Du hast schon richtig gehört. Du liebst mich nicht. Ich bin für dich nur deine dumme Mutter die gut genug ist, um die ein Weihnachtsessen und Geschenke zu bereiten. Du solltest dankbar sein Hayden. Ich hab euch groß gezogen und auf alles verzichtet für euch und ich erwarte doch nur, dass ihr bei mir seid. Aber das scheint dir ja zu viel zu sein."
Lügen.
Alles Lügen.
„Mum. Das stimmt nicht. Du weißt, dass ich einfach nur genauso behandelt werden will die Jaden." murmelte ich. Kleinlaut. Sie wollte hören, dass ich sie liebe und dass es mir leid täte. Ich konnte ihr schon lange nicht mehr sagen, dass ich sie liebe. Es war zu viel passiert.
„Geh mir aus den Augen Hayden. Ich will heute nicht mehr mit dir sprechen."
In mir brach etwas. Wieder einmal. Mittlerweile reichte so eine kleine Diskussion, um mich zu verletzen. Sie drehte den Spieß um. Wie immer. Ich war schuldig. Egal was ich tat, es reichte ihr nicht.
„Mum, wie viel hast du getrunken?" platzte es aus mir heraus. Ein Fehler.
„GEH MIR AUS DEN AUGEN! Ich hab 1-2 Gläser getrunken - NA UND? Was erlaubst du dir? Geh auf dein Zimmer!" Sie schrie. Sie schrie immer, wenn der Alkohol aus ihr sprach.
Tränen brannten in meinen Augen und ich musste dort weg. Ich konnte kaum atmen.
Also lief ich los. Aus dem Haus.
Meine Wangen waren mittlerweile feucht und ich spürte die winterliche Brise. Ich hatte keine Jacke.
Meine Gedanken rasten. Situationen wie heute gab es bereits unzählige. Man sollte meinen ich wäre mittlerweile abgehärtet. Stattdessen tat es jedes mal ein Stück mehr weh. Es hatte nur ein Gutes: Sie würde es morgen nicht mehr wissen. Wobei Gut wohl im Auge des Betrachters lag.

Wie eine kaputte Schallplatte landete ich immer wieder an der selben Stelle.
Meine Mutter schenkte meinem Bruder ihre Aufmerksamkeit. Sie interessierte sich nicht für mich, aber erwartete dennoch, dass ich funktioniere. Und wenn ich nicht funktioniere ... nun, die Auswirkungen spürte ich erst vor wenigen Minuten: Vorwürfe. Druck. Das Gefühl, meiner Mutter etwas Böses zu tun. Ich machte Probleme und wurde bestraft - mit Missgunst. Egal was ich tat. Ein falsches Wort und ich war der Böse.
Ich sehnte mich danach, gesehen zu werden. So wie ich war.
Und als wäre es Schicksal fand ich mich plötzlich im Park wieder. Vor mir der See, den ich über 20 Jahre lang nicht gesehen hatte. Die Bank, auf der ich eines Nachts mit ihm saß, stand nur wenige Meter von mir entfernt.
Ezra.
Er sieht mich.
Ich nahm mein Handy und wählte seine Nummer. er hob nach nur zweimal klingeln ab.
„Hayden. Geht's dir gut?" ich schniefte. Es war eine simple Frage, nichts besonderes. Aber in diesem Moment bedeutete sie mir die Welt.
„Mir geht es gut." wieder ein Schniefen.
„Hay, wo bist du? Ist was passiert?"
„Meine Familie ist passiert. Ich wollte nur ... ich weiß auch nicht. Ich schätze, ich wollte deine Stimme kurz hören." plötzlich merkte ich, wie dämlich das war. Ich rief an Heiligabend Ezra an um mich auszuheulen. Wobei seine gesamte Familie zusammenkam und gemeinsam feierte.
„Ich wollte nicht stören sorry. Vergiss was ich gesagt habe" murmelte ich und legte auf. Scham stieg in mir auf. Ich drängte mich auf.
Mein Handy klingelte.
Ezra.
Mein Herz schlug schneller. Er hat zurückgerufen.
„Es tut mir leid" sagte ich kleinlaut.
„Wo bist du?" fragte er, diesmal forscher. Es klang weniger wie eine Frage - viel mehr forderte er eine Antwort von mir.
„Erinnerst du dich noch an den See?"
„Gib mir 10 Minuten." Dann legte er auf.
Es vergingen 20 Minuten bis ich den Brünetten aus einiger Entfernung sah. Es war mir unangenehm, weil er extra wegen mir von seiner Familie wegging. Ich war Schuld, dass er von dort weg musste.
„Hey, sorry ich musste mir erst eine Ausrede einfallen lassen" begrüßte er mich. Mein schlechtes Gewissen fraß mich auf.
Er kam näher und nahm mein tränenüberströmtes Gesicht wahr. Ich wollte im Erdboden versinken und wendete mich von ihm ab, rückte ans äußerste Ende der Bank. Wenige Sekunden später spürte ich einen Arm um meinen Schultern. Er hatte sich dicht neben mich gesetzt. So dicht, dass die halbe Bank leer war.
„Ich bin hier. Es ist okay" flüsterte er, als er mich fester in die Arme nahm. Meine Dämme brachen und ich schluchzte laut und oft. Ich heulte wie ein Baby an seiner Brust, krallte mich in seiner Jacke fest um Halt zu bekommen. Erst heute fiel mir auf, wie gut Ezra roch. Mein Herzschlag beschleunigte sich.
„Wo stehst du gerade auf einer Skala von 1 bis 10?"
„Acht"
„Acht ist viel. Atme okay? Du musst jetzt nicht zurück."

After the Storm - Man x ManWo Geschichten leben. Entdecke jetzt