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Nach sechs Wochen ist es soweit. Ich bin seit vier Tagen wieder mit Sam in Louisiana, in dem kleinen Haus, das uns zur Verfügung gestellt wird. 
Und heute möchte ich es das erste Mal verlassen. Es geht zwar nur in den Vorgarten, doch ich bin dennoch aufgeregt. Es wird das erste Mal sein, dass ich ein Gebäude freiwillig verlasse, seit meiner Entführung. 
Schluckend sehe ich auf die Glastür vor mir und kralle mich an den Infusionsständer neben mir. Um wirklich alle Schmerzen zu verhindern, wurde mir erlaubt das Schmerzmittel bis zu acht Wochen nach der Operation zu behalten. Zwei mehr, als üblich sind.
Ich bin Sam dankbar, dass er das für mich einrichten konnte. Allein die psychischen Schmerzen bei dieser Erinnerung sind kaum zu ertragen. Einen Trigger, wie durch anhaltende Schmerzen im Rücken, würde ich wohl kaum überstehen. 

"Bereit?" 
Schüchtern sehe ich zu Sam, welcher mich munter anlächelt. Wir beide sind in dicke Wintersachen gepackt, weil es im Februar selbst in Louisiana kalt werden kann. Doch hier drin wird mir allmählich zu warm. 
"Denk daran, du kannst jederzeit wieder ins Haus. Und das schlimmste, was dir passieren kann, ist einen Spaziergänger zu sehen. Wie ich dir gesagt habe, hier ist weit und breit kaum jemand. Und wenn hier jemand ist, ist es entweder ein Therapeut oder ein Patient. Und jeder von denen wird deine Lage erkennen", beruhigt er mich weiter. 
Nickend zeige ich ihm, dass ich ihn verstanden habe. Ich bin noch immer nervös und unruhig. 
Doch nach einem tiefen durchatmen wage ich es die Tür zu öffnen. Ohne weiter darüber nachzudenken, trete ich durch sie hindurch und bleibe auf der Veranda wieder stehen. 
Sam ist mir mit wenigen Schritten gefolgt. Beruhigend greift er nach meiner Hand, welche ich in einem Anflug von Panik fest drücke. 
Mit grossen Augen und schnell durch den Mund atmend sehe ich mich um. Noch ist es nicht viel anders als in dem Haus. Die Veranda hat ein Dach, es fehlen nur die Wände an den Seiten. Und es trennt mich kein Glasfenster mehr von der Welt. 
"Du schaffst das Bucky", flüstert mir Sam zu. 
Wie in Trance nicke ich. Dann wage ich einen Schritt weiter nach vorne. Und noch einen. Dann einen weiteren. Immer nach einander. 
Bis ich vor der Treppe stehe, die zum Vorgarten herunter führt. Das Ziel, das ich mit Sam für heute ausgemacht habe, ist einen Schritt in das Gras. Zuerst wollte ich bis zur Strasse nach vorne, etwa zwanzig Meter weiter. Doch Sam meinte, dass das für den ersten Tag zu viel sein könnte. 
Jetzt danke ich ihm für diesen Einwand. Denn allein der Weg bis zur Treppe erscheint mir schon unglaublich lange. Immerhin liegt es diesmal nicht an meiner schlechten Kondition. Denn die konnte ich vor der OP sehr gut aufbauen. In der Zeit danach ist sie wieder zurück, weil ich das Bett nur selten verlassen durfte. Aber es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. 

Neben mir steigt Sam die Treppe hinunter. Sobald er in dem feuchten Gras steht, dreht er sich zu mir um und hält mir die Hand entgegen. 
Ängstlich sehe ich diese an, ringe mich dann aber durch sie zu greifen. Innerlich rede ich mir gut zu, dass Sam weiss, was er tut. Er würde mich keiner Gefahr aussetzen, dem Vertraue ich Sam. 
Somit klettere ich - wenn auch sehr steif und ungeschickt - die Treppe hinunter. Der Dunkelhaarige murmelt mir beruhigende Worte zu und stützt mich gut. 
Unten klopft mein Herz wie wild. Einerseits vor Anstrengung der Treppe, andererseits vor Nervosität.
Mit offene Mund und grossen Augen sehe ich mich in der Gegend um. Ich habe sie zuvor schon immer durch das Fenster beobachtet, doch nun sieht es beinahe gleich aus. Nur dass ich mitten drin stehe. 
Mit wild pochendem Herzen drehe ich mich vorsichtig im Kreis. Alles ist ruhig und wirkt friedlich. Nichts, was eine drohende Gefahr sein könnte. Doch dem vertraue ich nicht. Letztes Mal war es auch nicht so. 
"Grossartig, Bucky. Wirklich, du machst das fantastisch", beurteilt Sam neben mir. 
Schüchtern und dankbar nicke ich und sehe zu ihm. Die Anspannung scheint mir ins Gesicht geschrieben zu sein, denn er lächelt mitleidig. 
"Kann ich zurück ins Haus?", bete ich ihn beschämt. 
Sofort nickt Sam und führt mich zu der Treppe zurück. Sachte hilft er mir sie hinaufzusteigen und führt mich auch über die Veranda. 

Zurück im Haus hilft er mir die Jacke und die darunter auszuziehen, ohne dass die Infusion beschädigt wird. Schwer atmend und erschöpft lasse ich mich auf die Couch fallen. 
Sam hat noch immer Winterjacke und Schal an. Er zieht sie auch nicht aus. Viel eher schliesst er die Tür und verhindert somit, dass jemand einfach so eintreten könnte. 
Ich bewundere ihn dafür, dass er diese Hitze erträgt, um sicherzustellen, dass es mir gut geht. Denn auch ohne die Extraschichten habe ich verdammt heiss. Das Haus wirkt im vergleich zu draussen wie ein Backofen. 
Doch Sam ignoriert es geflissentlich und dreht den Schlüssel in der Tür um. Erst dann zieht er sich die Jacke über die Schultern und den Schal über den Kopf. Gemeinsam mit meinen Sachen legt er sie auf dem Esstisch ab und kommt zu mir herüber. 
Vorsichtig setzt er sich neben mich und legt seine Hand auf meinem Oberschenkel ab. Schüchtern sehe ich darauf und versuche mir mein zu stark klopfendes Herz nicht anmerken zu lassen. Denn es klopft nicht mehr vor Angst durch die Aussenwelt. 
Ich musste sechs Wochen lang so tun, als würde nichts zwischen uns sein. Auch nicht die angenehm kribbelnde Spannung, welche mein Herz springen lässt. Und das während ich unter Drogen stand. 
"Du warst toll, Bucky. Wirklich, das war grossartig. Du hast das super gemacht", erklärt Sam mir. 
Dankbar lächelnd sehe ich zu ihm auf. Wieder einmal könnte ich mich in seinen wunderschön glänzenden Augen verlieren. Und ihm scheint es ähnlich zu ergehen. Denn wir sehen uns gegenseitig tief in die Augen und keiner von uns macht den Anschein abzubrechen. 
Das wunderschöne und zutiefst reine Strahlen in seinen Augen ist zu schön um den Blickkontakt jemals abbrechen zu können. Zudem dieser sanfte Ausdruck, der mich geradewegs dahinschmelzen lässt. 
Seine Augen beherbergen alles, was ich in den letzten drei Jahren so sehr vermisst habe. Und in diesem halben Jahr haben sie sich zu meinem neuen Zuhause entwickelt. 

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Dies hier war das letzte Kapitel :)

Ich hoffe, es hat euch allen gefallen und noch einmal vielen Dank an @Winter_1917_Barnes für die Idee und Erlaubnis diese zu verwenden! 

He is a fallen AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt