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Wie angekündigt erhalte ich ab diesem Tag verschiedene Elixiere die den Wachstum der Flügel ankurbeln sollen. Sie alle werden direkt in diese initiiert oder über eine Infusion in mein System gepumpt. 
Durch die Infusionen, von welchen ich weiss, dass sie täglich stattfinden, habe ich versucht die Zeit in den Augen zu behalten. Aber nach Tag 53 war ich mir nicht mehr sicher, ob ich 54 schon gezählt habe oder nicht. Und nach Tag ca. 57 habe ich den Faden komplett verloren. 
Seit Tag ca. 57 ist viel zeit vergangen. Ich schätze auf ein paar Monate, aber es ist schwer zu sagen. Die Zeit fühlt sich hier anders an. Nicht greifbar und als etwas, dass es gar nicht mehr gibt. 

Irgendwann haben die Flügel eine Grösse erreicht, die mich um einiges überragt.
Mein Rücken hat sich inzwischen an ihr Gewicht gewöhnt, doch es ist noch immer nicht angenehm. Es zieht mich nach hinten, was es mir um einiges erschwert aufrecht zu stehen. 
Somit bleibt mir nichts anderes übrig als in der Ecke zu kauern und zu warten, bis sie wiederkommen. Inzwischen bin ich hier auch so vereinsamt, dass ich mich freue, wenn ich einen Menschen sehe, der nicht verhüllt ist. 
Selbst wenn das nur Schmidt und Zola sind. Ich weiss, dass ihr Auftauchen meist Schmerzen bedeuten, aber was bleibt mir anderes übrig? Der Menschenkontakt ist zur Rarität geworden und ich hungere nach dem Austausch mit 'Artgenossen'. 
Zwar hasse ich es, ihnen damit völlig ausgeliefert und von ihnen abhängig zu sein, aber mir bleibt nichts anderes mehr übrig.
Ich meine, ich bin hier drin verrücktgeworden, oder nicht? Ich warte auf die Leute, die mit mir machen was sie wollen, und freue mich sogar noch über ihre Berührungen. Inzwischen wehre ich mich auch wieder. 
Nicht aus dem Grund, dass ich meinen Kampfeswillen wiedergefunden habe, sondern damit sie mich anfassen müssen. Und selbst wenn ihre Berührungen weh tun, geniesse ich sie. Weil ich einen anderen Körper anstelle meines spüren kann. 

Als mir diese Wahrheit bewusst wird, tropft mir eine einsame Träne über die Wange und vom Kinn. Ich hungere so sehr nach Berührungen und Hautkontakt, dass ich mich auf diese Monster freue. Ich sehne mich ihnen entgegen und lächle, wenn ich eine Hand an meinen Armen, Schultern oder meinem Rücken spüre. 
Ich bin erbärmlich. Gebrochen, dreckig, behandelt wie eine Laborratte und so etwas von erbärmlich! Und verrückt, und durchgeknallt und einsam. 

Gerade als ich richtig weinen möchte, gehen die grellen Lichter an und die Tür wird geöffnet. Erschrocken und verängstigt sehe ich nach oben und beobachte, wie vermummte Leute hereintreten. 
Schluckend richte ich mich ein wenig auf. 
'Ich muss kämpfen', denke ich mir.
'Ich muss gegen sie ankämpfen und mich wieder wehren. Ich muss dem ein Ende bereiten.' 
Der Würfel hebt sich und ich mache mich bereit. Es gibt hier einen Weg raus. Und den muss ich finden. Es ist die einzige Möglichkeit. 

Mit einem Schrei stürze ich mich auf den nächst Stehenden.
Dieser geht verdattert zu Boden und ich reisse ihm die medizinische Maske vom Gesicht. Sein schockiertes Gesicht kommt zum Vorschein. 
Wütend und mit aller Kraft schlage ich immer wieder mit der Faust in sein Gesicht. Bereits nach dem ersten Schlag tropft Blut aus seiner Nase. Nach dem dritten verdreht er die Augen und verliert das Bewusstsein. 
Ich hoffe er ist tot. 
Nun haben auch seine beiden Kumpane kapiert, was hier los ist. So schnell sie können stürzen sie sich auf mich. 
Den ersten fege ich leicht mit einem Flügel gegen die Wand. Benommen sinkt er zu Boden und bleibt liegen. 
Den zweiten wehre ich mit meinen Händen ab. Mir gelingt es auch ihn mit dem Flügel von mir wegzuschleudern. 

Sobald alle bewusstlos oder vielleicht sogar tot am Boden liegen renne ich auf den Ausgang des Labors zu. Ich muss mich beeilen, das wird nicht ewig unentdeckt bleiben. 

Aber meine Flucht ist schneller vorbei, als ich es realisieren könnte. Kaum ist die Tür offen stehen ein dutzend Männer mit scharfen Waffen vor mir. 
Zuvorderst thront Schmidt mit arrogant wütendem Blick. 
Erschrocken weiche ich zurück. Dabei ramme ich versehentlich einen Tisch hinter mir um. Es macht mir aber nicht sonderlich viel aus. 
"Ich hatte gehofft, Sie hätten diese Phase endlich hinter sich gelassen", knurrt Schmidt mir zu. 
Schluckend sehe ich mich nach einem neuen Fluchtweg um. Die Ausgangstür ist versperrt, aber der Röntgenraum müsste noch frei sein. 
Als ich aber in die Richtung der zweiten Tür sehe stirbt meine Hoffnung. Zola steht davor und in seiner Hand hält er etwas, das ich längst vergessen habe. 
Die Fernbedienung für die Maske, die mir nie abgenommen wurde. Inzwischen ist die künstliche Ernährung so gewöhnlich geworden, dass ich sie kaum noch realisiere. 
Und das war mein Fehler. 
Mit Tränen der Verzweiflung in den Augen kann ich nur noch zusehen, wie Zola den Knopf drückt. Die Welt beginnt sich zu drehen und zu verschwimmen. 
Ich bekomme noch den schmerzhaften Ruck in den Flügeln mit, als ich umfalle. Aber mehr ist da nicht mehr. 
Nur noch dunkelstes Nachtschwarz. 

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Das Aufwachen ist noch schlimmer, als ich es in Erinnerung habe. Die lähmende Erschöpfung - welche erst mit der Zeit weggeht - ist der erste Faktor, der mir Angst bereitet. 
Als nächstes bemerke ich die Schmerzen in meinem Rücken. Sie sind viel schlimmer, als ich es mir inzwischen gewöhnt bin. 
Verwirrt versuche ich mich aufzustützen, doch dabei fällt mir auch das nächste Problem auf. Meine Arme sind in einer Zwangsjacke gefangen. Und das Gewicht der Flügel ist zu gross, sie drücken mich herunter. 
Somit kann ich nur seitlich liegen und raten, was mit mir passiert ist, während ich untergetaucht war. Ich weiss nur, dass die Flügel sehr schmerzen. 
Zischend versuche ich sie - sobald ich wieder mehr Kraft habe - nach vorne zu bewegen, damit ich sehen kann, was passiert ist. Aber sie kommen nicht nach vorne. Irgendetwas hält sie fest. 
Als ich wieder weiter bei mir bin, kann ich das Netz um sie herum spüren. Es schneidet scharf hinein und verursacht womöglich diese Schmerzen. 
Doch als ich in die Spiegelung des Glases sehe, bleibt mein herz stehen. Die Flügel sind nackt. 
Sie haben sie gerupft!

He is a fallen AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt