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Noch immer verblüfft darüber, dass diese Leute nichts mit mir getan haben, sitze ich zehn Minuten später wieder auf meinem eigenen Bett. Sam hat sich auf das Feldbett gesetzt und lehnt mit dem Rücken gegen meines. 
Er war so nett und hat das Fenster von den Vorhängen befreit, damit ich auch vom Bett aus hinaussehen kann. Somit starre ich in die Welt hinaus, während ich geschützt auf dem Bett in meinem Zimmer sitze. 

"Wie lange ist es her? Wann wurde ich...", ich schaffe es nicht das Wort 'Entführt' auszusprechen. 
Es wirkt so unglaublich lange her, dass ich noch ein freier Mensch war. Dass ich ein eigenes Leben hatte. Als wäre es nur ein verblasster Traum, an den ich mich manchmal noch erinnere. Aber als wäre er niemals echt gewesen. 
"Steve hat dich vor dreieinhalb Jahren als vermisst gemeldet. Damals warst du schon für eine Woche verschwunden", beichtet Sam mir. 
Schluckend versuche ich diese Nachricht zu verarbeiten.
Dreieinhalb Jahre? So lange war ich in dieser Hölle gefangen? Beinahe vier Jahre lang musste ich diese unerträglichen Schmerzen über mich ergehen lassen? 
Mein Atem stockt, selbst dann noch, als mir die Kinnlade herunterfällt. Ich schaffe es weder zu atmen noch einen Laut von mir zu geben. 
Hilflos sehe ich auf die Aussenwelt vor mir und versuche klarzukommen.
Inzwischen hätte ich das Studium abgeschlossen, einen Job gefunden oder als Sportler Karriere gemacht.
Und vielleicht hätte ich Steve geheiratet. Immerhin hatte ich einen Antrag auf drei Wochen nach der unverhofften Entführung geplant. 
Wenn er ja gesagt hätte, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt gewesen. Ich hätte den Mann geheiratet, den ich über alles liebte.
Vielleicht hätten wir eine Familie bekommen. Eine Tochter, oder zwei. Oder vielleicht einen Sohn, oder zwei? 

Aber ich wurde entführt und verkauft. Ich konnte nie um seine Hand anhalten, meinen grössten Wunsch nie wahrwerden lassen. Mein Leben war von einem Tag auf den anderen verändert. 
Ich musste um mein Überleben kämpfen, hatte nicht einmal die Zeit oder Energie um an Steve zu denken. Dieses Gefühl lässt mir schlecht werden und ich kann es nicht verdrängen. 
Weil ich die Liebe meines Lebens vergessen habe. 

Erst als Sams Finger mir sanft über die Wange streift, realisiere ich, dass ich weine. Ohne Schluchzen und ohne Atemnot. Nur stille Tränen, die mir über die Wange rieseln. 
Wie so oft. 
Kraftlos senke ich meinen Kopf und drücke meine Augen zusammen.
Eiskalte Krallen greifen nach meinem Herzen und stechen hinein, bis ich es bluten Spüren kann. Sie zerfetzen es, bis nur noch zentimetergrosse Stücke übrig sind. 
Und dann reissen die Krallen mir das Herz aus der Brust. Stück für Stück, jedes Teilchen einzeln durch eine neue Wunde. 
Bis ich nicht mehr atmen kann und vor Schmerz schluchze. 
Dreieinhalb Jahre sass ich in dieser Hölle fest. Habe mein Traumleben vergessen und mir jede Hoffnung nehmen lassen. 
Um als geschundener Engel wieder hinauszutreten. Mit Schmerzen, die mich beinahe ins Grab tragen und einem gebrochenen Herzen. 
Und mit Flügeln die ich niemals wollte und mir auferzwungen wurden. 

Wenn Steve mich jetzt sehen würde, mit gigantischen, schweren Flügeln, dreckigen langen Haaren und völlig abgemagert, würde er mich noch lieben? Würde er zu mir zurückkommen? 
Kann ich mir diese Hoffnung erlauben? Würde er mich noch akzeptieren? 

"Sam?" 
Meine Stimme ist unglaublich leise und nur ein Flüstern. Dennoch sieht er sofort zu mir auf und schenkt mir seine gesamte Aufmerksamkeit. 
"Darf...darf Steve mich besuchen kommen? Ich brauche ihn", offenbare ich so unglaublich leise. 
Und gebrochen. 
"Ich werde sehen, was ich machen kann, ja?" 
Dankbar nicke ich. Doch entgegen meiner Erwartung bleibt Sam bei mir sitzen. Schweigend verstehe ich, dass er seine Prioritäten auf mich abgestimmt hat.  Er wird mir erst beistehen, bevor er mich alleine lässt um nach Steve zu fragen. 
Dankbar lächle ich ihm möglichst tapfer zu. Er erwidert ein kleines Lächeln. 

°°° 

Erschöpft liege ich in Sams Armen und versuche nicht zu sehr nachzudenken. Versuche nicht die vergangenen Jahre Revue passieren zu lassen. 
Auch die Gedanken an Steve vermeide ich bestmöglich. Die Erinnerungen an ihn tun gerade zu sehr weh. Und meine Schuldgefühle ihm gegenüber sind erdrückend. 
Somit konzentriere ich mich einzig und allein auf Sams Duft, welcher mich in der Gegenwart behält. Ich kuschle an seine Brust und behalte meine Augen nur halbwegs offen. 
Sie brennen noch immer von dem vielen Weinen und sind angeschwollen. Dazu sind sie warm und verstärken den Drang damit, sie zu schliessen. 

Sam selbst telefoniert im Liegen leise mit jemandem. Jedoch probiere ich nicht einmal ihn zu belauschen. Meine Konzentrationsspanne momentan reicht nicht einmal für zwanzig Sekunden aus. 
Entspannt liege ich einfach in seinen Armen und tue nichts mehr und nichts weniger. Ich geniesse die Ruhe, die für ein Mal nichts Bedrohliches ankündigt. 
Meine Rippen heben und senken sich regelmässig im Takt. Synchron atmet auch Sam durch, wenn er gerade nicht spricht. 
Die Flügel liegen entspannt ausgestreckt im Bett und ein wenig am Boden und gewöhnen sich wieder daran sich zur vollen Grösse entfalten zu können. Die Spannung schmerzt ein wenig, doch längst nicht so, wie es das Netz tat. 
Trotz der Panikanfälle bin ich froh, dass sie endlich wieder frei sind. So schmerzen sie wenigstens ein bisschen weniger. 

Sam beendet das Gespräch und legt das Handy weg. Selbst die haben sich in drei Jahren verändert. Inzwischen finde ich kaum noch etwas, das bei dem Alten geblieben ist. 
"Wie fühlst du dich?", erkundigt Sam sich fürsorglich. 
Zum ersten Mal seit er das Telefonat begonnen hat sehe ich wieder zu ihm auf. Der dunkelhaarige Mann sieht aufrichtig zu mir und wartet. Er weiss inzwischen, dass ich nicht mehr so gut mit Wörtern bin. 
"Friedlich." 
Sam nickt zufrieden und schmunzelt ein wenig. Seine obere Hand streichelt andächtig durch mein Haar. 
Beschämt senke ich den Blick und drehe meinen Kopf weg. Sofort hält er inne. 
"Was ist los?", wundert Sam sich. 
"Ich...ich fühle mich so dreckig...", gebe ich leise zu. 
Sam gibt ein verblüfftes Geräusch von sich und nimmt seine Bewegung wieder auf. Auch von meiner Gegenwehr lässt er sich kaum beirren. 
"Fühlst du dich fit genug, für ein Bad?", schlägt er mir sanft vor. 
Überrascht sehe ich zu ihm auf. Sam lächelt mir entgegen und bestätigt mich mit einem Blick. 
Schüchtern nicke ich und kuschle mich dennoch näher an ihn heran. Auch wenn ich mich schmutzig fühle, ist der Moment gerade zu schön, um jetzt einfach aufzustehen und zu baden. 

He is a fallen AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt