Kapitel 4:

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Es war schon erstaunlich, wie viele Emotionen der Mensch in einem Abschnitt von fünf Sekunden durchlaufen konnte. Bei mir waren es Faszination, Unwohlsein, Verschämtheit, Freude, erneutes Unwohlsein und unverhohlenes Missfallen, gefolgt von einem »Was willst du denn hier?« was ungünstiger Weise genauso schnippisch rüberkam wie meine letzte Emotion.
Er richtete seine Augen auf mich und blickte von meinen schlammverschmierten Pumps rauf über mein halblanges lila Kleid, das zuvor noch fröhlich um meine Beine geschwenkt war, aber nun durch den Regen an meinem Körper klebte, ebenso wie meine Haare, vorher ein hübscher Knoten und nun Vogelnest. Daher kam wohl mein Scham, denn er war trocken und sah fantastisch aus.
Zu fantastisch...

»Das Gleiche könnte ich auch dich fragen Hashi-äh...«
»Wara! Hashiwara Misaki!« fuhr ich ihn an und schnaubte etwas beleidigt. Da rettete der einen aus einer lebensgefährlichen Situation, erklärte einem noch dazu ganze Fluchzeugs und vergaß sofort den Namen der Person.
Du bist vielleicht auch nicht die Einzige...
Ich schob den Gedanken rasch beiseite und musterte ihn stattdessen, leider ertappte ich mich erneut dabei, wie ich meinen Blick über seine langen Beine, die schlanke Gestalt bis hin zu seinem hübschen Gesicht schweifen ließ. Bildete ich mir das ein, oder hatte er nicht eine wahnsinnig reine Haut? Und die Wimpern waren so lang. Gerade die konnte man gut erkennen, da seine Sonnenbrille ungewöhnlich tief auf seiner Nase lag, als wäre sie runtergerutscht und er hätte schlichtweg vergessen es zu korrigieren.

»Du starrst.«
»Was? Wie bitte?«
»Du starrst mich an.« wiederholte er und setzte ein wissendes Lächeln auf. Meine Wangen färbten sich rot und ich wand meinen Blick rasch ab.
Schöner Sonnenuntergang, schöne Bäume, schöner Fluss und Satoru ähm Gojo...
Ich konnte nicht anders, ich musste ihn einfach ansehen, auch wenn das irgendwie peinlich wurde. Vor allem das Schweigen.
»Was machst du hier?« wiederholte ich meine Frage vom Anfang mit etwas versöhnlicherem Tonfall und ließ mich neben ihn ins Gras sinken.
»Das Gleiche könnte ich dich doch auch fragen, nicht?« wiederholte er die Seine, doch sein Tonfall konnte kaum abwesender sein. War etwas passiert? War das seine Art Trübsal zu blasen?
»Meine Schwester feiert ihre Hochzeit in der Nähe. Und ich musste äh... aus Gründen von da weg.« erklärte ich.
»Hm, verstehe.«
»Ich glaube nicht.«
»Doch, doch. Familien können anstrengend sein.«
»Uhm so in der Art...«
Ich legte den Kopf schief und studierte seinen Gesichtsausdruck. Im Psychologiestudium hatte ich gelernt, dass Menschen häufig allein sein wollen, wenn sie etwas Bedrückt. Dies konnte zum Beispiel ein wertvoller Verlust sein, eine Abservierung oder einfach Stress.

Stress konnte ich vermutlich ausschließen und Abservieren schien mir auch eher unwahrscheinlich. Es sei denn ein Mädchen, dass mit ihm ausgehen wollte würde viel Wert auf Charakter legen.
»Hast du jemanden verloren?« riet ich ins Blaue hinein und zum ersten Mal seit wir aufeinander getroffen waren, sah er mich richtig an.
»Huh?«
»Du hast jemanden verloren, der dir wichtig war.« stellte ich fest und wartete auf eine weitere Reaktion. Er riss die Augen auf.
»Du sagtest außerdem du verstehst Familienstreitigkeiten. Gab es bei dir in der Familie einen Verlust?«
Er blickte zur Seite.
Falsch geraten? Ugh...
»Nicht richtig, aber auch nicht so falsch.« antwortete er schließlich. »Es war ein kleines Mädchen. Wir sollten sie beschützen, aber dann...« er stockte und seufzte tief durch. »Sie wurde getötet. Ich habe danach ihren Mörder aufgespürt und ihn meinerseits umgebracht... und noch viele weitere Männer, die hinter ihr her waren. Nur... empfinde ich kein Bedauern. Über gar nichts.«

Das wäre mein Einsatz gewesen aufzuspringen und zu rennen. Sein Blick, der wieder auf mir ruhte, ließ mich ahnen, dass er genau das von mir erwartete.
Mörder! Er?! Lügt er? Will er mich bloß loswerden?
Mein Kopf drehte sich und doch blieb mein ganzer Körper ruhig.
Vielleicht ist er verwirrt? Nein... er macht nicht den Eindruck... aber würde er... könnte er wirklich?
Ja, er konnte. Und er hatte.
Ich wusste bereits, dass er den Tod schon mehrfach gesehen haben musste. Wenn Flüche auf Menschen losgingen, wie viele Jujuzisten ständen bereit? In Anbetracht der Tatsache, dass es kaum welche von ihnen gab, kam es wohl auch vor, dass Menschen starben und wer den Tod gesehen hat und weiter sehen wird ist meistens moralisch grau. Auch das war aus meinem Kurs. Und sagte er nicht, dass er das Mädchen gerächt hatte? So verschroben konnte er nicht sein, oder?

Nur ein Mensch (Satoru GojoxOC)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt