Kapitel 34

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Es vergeht eine ganze Woche, bis ich mich tatsächlich in den Zug nach Berlin setze. Irgendwie musste ich mich erst an den Gedanken gewöhnen, Felix wieder unter die Augen zu treten. Außerdem weiß ich gar nicht, ob er mich überhaupt sehen will. Wenn ich Pech habe, ist er noch nicht mal zuhause.
Aber das Risiko bin ich bereit, einzugehen. Lieber stehe ich vor verschlossener Tür, als meinen Besuch anzukündigen. Denn eine Nachricht, in der er mir schreibt, dass ich mich bloß nicht blicken lassen soll, würde ich nicht ertragen.
In Berlin angekommen funktioniere ich wie auf Autopilot. Ich nehme völlig selbstverständlich die U5 vom Hauptbahnhof zum Alexanderplatz und von dort die U3 in Richtung Kottbusser Tor. Als ich ganz alleine zu Felix' Wohnung laufe, merke ich, dass mir eigentlich mulmig zumute werden sollte, aber überraschenderweise fühle ich nichts. Im Prinzip kann mir hier nichts passieren, was dafür sorgen würde, dass es mir schlechter geht als jetzt gerade.
Als ich vor seinem Wohnhaus stehenbleibe, zögere ich kurz und atme noch einmal tief durch. Ich will gerade auf die Klingel drücken, da wird die Tür von innen geöffnet.
Ein älterer Herr, wahrscheinlich ein Nachbar von Felix, kommt raus und sieht mich verdutzt an. „Möchten Sie rein, junge Frau?"
Er lächelt mich freundlich an und obwohl mir nicht danach zumute ist, erwidere ich sein Lächeln. „Ja. Danke."
Auf der Treppe lasse ich mir alle Zeit der Welt. Ich will nicht schon wieder atemlos vor ihm stehen.
Eine gefühlte Ewigkeit später stehe ich vor Felix' Wohnungstür. Lobrecht. Ich schaue das Klingelschild so lange an, bis ich beinahe vergessen habe, warum ich überhaupt hier bin, dann hole ich noch einmal tief Luft und drücke drauf.

Ich halte die Luft an. Ein paar Sekunden lang passiert gar nichts. Ich versuche krampfhaft, mich darauf zu konzentrieren, ob ich aus seiner Wohnung irgendwelche Geräusche hören kann, aber da ist nichts.
Es vergehen 5 Minuten, bis ich nochmal auf die Klingel drücke. Wieder passiert nichts. Denke ich. Ehe die Tür schließlich doch geöffnet wird.
Als Felix und ich uns gegenüber stehen, weiß ich nicht, wer von uns beiden überraschter ist. Er hebt die Augenbrauen und öffnet leicht den Mund.
Kurz glaube ich, in seinem Blick erkennen zu können, dass er sich freut, mich zu sehen, aber der Moment ist so schnell wieder vorbei, dass ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich es mir nicht doch eingebildet habe.

„Hi", flüstere ich vorsichtig. „Darf ich vielleicht reinkommen?"
Felix mustert mich kurz, dann seufzt er und nickt. „Ja."
Er tritt zur Seite und lässt mich rein. Ich nutze den kurzen Moment, in dem Felix die Tür schließt und den Schlüssel umdreht, um mich umzusehen. Seine Wohnung kommt mir auf einmal so fremd vor. Als ich das letzte Mal hier war, war ich so glücklich. Wir waren so glücklich. All das scheint jetzt meilenweit entfernt zu sein.
Felix schaut mich kurz an und deutet den Flur entlang. „Nach dir."
Ich gehe vor und bleibe schließlich im Wohnzimmer stehen. Betreten starre ich durch die Gegend, als wäre ich zum ersten Mal hier. Ich weiß nicht, ob ich mich auf die Couch oder an seinen Esstisch setzen darf, deshalb bleibe ich lieber stehen.
Felix mustert mich und schüttelt schließlich den Kopf. Fast glaube ich, ein angedeutetes Schmunzeln auf seinen Lippen zu sehen.
„Was wird das?"
„Keine Ahnung", sage ich matt. „Ich weiß nicht, wo... also..."
Wieder seufzt er. „Jetzt setz dich schon hin. Du machst mich ganz nervös."
Schnellen Schrittes gehe ich zur Couch und setze mich. Felix geht ohne ein weiteres Wort in die Küche und holt etwas aus dem Kühlschrank. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich eine Flasche Fanta. Ich bin mir nicht sicher, ob es Zufall ist, aber als mein Blick auf die Flasche fällt, bekomme ich eine Gänsehaut.
Wie kann ein 08/15-Süßgetränk auf einmal so eine große Bedeutung innehalten?

Felix stellt zwei Gläser vor uns ab. Er gießt jedem von uns etwas ein und reicht mir schließlich eines der Gläser.
Wortlos prostet er mir zu und nimmt einen Schluck, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Ich nippe nur an meinem Glas und gebe mir krampfhaft Mühe, ihn dabei nicht anzusehen.
Kurz fürchte ich, dass mich der Mut verlassen könnte, da räuspert Felix sich. „Also?"
Jetzt ist wohl der Moment gekommen. Ich stelle das Glas ab und stoße einen tiefen Seufzer aus.
„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll", sage ich schließlich. „Das ist alles so... kompliziert. Und lang."
Erst jetzt schaue ich ihm in die Augen. „Hast du überhaupt Zeit?"
Sein linker Mundwinkel zuckt. „Sonst hätte ich nicht aufgemacht."
Ich nicke. „Gut. Also... das kommt jetzt nicht wirklich überraschend aber... ich hab seit Jahren extreme Vertrauensprobleme."
„Ach was."
Wenn die Situation nicht so ernst und absurd wäre, müsste ich beinahe lachen, doch ich verkneife es mir und überhöre seinen Kommentar.
„Mein Vater... also... ich hab nicht wirklich einen guten Kontakt zu meinen Eltern. Und das liegt daran, dass sie sich scheiden lassen haben, als ich 13 war."
Ich seufze. „Es hat damit angefangen, dass mein Vater anfangs immer länger auf der Arbeit geblieben ist. Mal nur eine halbe Stunde, mal eine ganze und manchmal zwei. Ständig gab es einen neuen Grund und er hat das auch wirklich plausibel verkauft. Die Projekte, für die er angeblich Überstunden schieben musste, gab es wirklich, aber die waren nicht der Grund für seine langen Abwesenheiten. Der Grund hatte lange, blonde Haare und ein Doppel-D-Körbchen."
Ich hole kurz Luft, ehe ich fortfahre. „Als meine Mutter das rausgefunden hat, ist sie natürlich durchgedreht. Er hat sie über zwei Jahre betrogen. Zwei Jahre, Felix! Stell dir das mal vor!" Ich seufze nochmal.
„Dabei hätte ich nie gedacht, dass wir eine der Familien sind, denen sowas passiert. Ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Eltern haben mir jeden Wunsch erfüllt, sie haben mich geliebt. Wir sind fast jedes Jahr in den Urlaub gefahren, ich habe alles bekommen, was ich wollte. Nur Treue, die konnte mein Vater uns nicht geben."
Ich räuspere mich. „Und weil das ganze passiert ist, als ich 13 war, habe ich das natürlich alles mitbekommen. Ausgerechnet kurz vor der Phase, wo man selbst langsam anfängt, sich für Liebe und den ganzen Kram zu interessieren. Und irgendwie hat mich das ganze wohl so geschädigt, dass ich nie eine richtige Beziehung aufbauen konnte."
Felix, der mich während meiner Erzählungen nicht aus den Augen gelassen hat, runzelt die Stirn. „Aber ich dachte, du hattest schon drei Beziehungen?"
Ich nicke eilig. „Hatte ich auch. Aber die haben alle nicht lange gehalten. Weil ich ihnen nicht vertrauen konnte."
Ich lächele ihn traurig an und er stößt einen tiefen Seufzer aus. „Verstehe."

Eine Weile sitzen wir stumm nebeneinander. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis Felix endlich etwas sagt.
„Also... versteh mich jetzt bitte nicht falsch, Maddie." Als ich meinen Spitznamen aus seinem Mund höre, zucke ich kaum merklich zusammen. „Ich bin wirklich froh, dass du mir das erzählt hast. Aber ich verstehe trotzdem nicht ganz, was das mit mir zu tun hat."
Ich sehe ihn überrascht an und will etwas sagen, doch er hebt die Hand. „Lass mich bitte kurz ausreden, okay?" Ich nicke und er atmet tief ein.
„Ich hab dir mehrfach klar und deutlich gesagt, dass ich dich gern habe. Ich hab mir für dich extra das ganze Wochenende freigehalten. Dass dann doch alles anders gekommen ist, war wirklich beschissen, aber ich konnte auch nicht wirklich was dafür."
„Naja, du hättest ja nicht zu dem Dreh gehen müssen", murmele ich.
Das scheint Felix aus dem Konzept zu bringen. Er hält inne und sieht mich ein wenig irritiert an. „Aber warum hast du denn dann nichts gesagt? Ich hab doch zweimal nachgefragt, ob es okay ist und du hast Ja gesagt. Kannst du dir vorstellen, dass es mich dann gelinde gesagt überrascht hat, als ich danach zu dir kam und dich so gesehen habe?"
Ich nicke und stoße einen tiefen Seufzer aus. „Ja. Kann ich. Sehr gut sogar."
„Na also, dann frag ich nochmal: Warum hast du nichts gesagt?"
„Weil ich dich nicht einengen wollte, okay?" Meine Stimme ist unbeabsichtigt lauter geworden, womit Felix wohl nicht gerechnet hat. In seinem Kopf scheint es zu rattern. Er sagt nichts und schaut mich weiterhin abwartend an. Ich seufze nochmal.
„Ich hab drei Beziehungen hinter mir, die alle daran gescheitert sind, weil ich den Typen nicht vertrauen konnte. Keiner von denen hat mich wirklich betrogen. Aber sie sind halt irgendwann gegangen, weil sie keinen Nerv mehr dafür hatten, mit jemandem zusammen zu sein, der immer vom schlimmsten ausgeht."
„Kann ich verstehen", murmelt Felix leise und ich nicke. „Ja. Ich auch. Und deswegen wollte ich, dass es mit dir anders wird."

Ich wende meinen Blick von ihm ab und schüttele den Kopf. „Ich dachte, nur dieses eine Mal schaffe ich es, meine dummen Gedanken abzustellen und dir einfach zu glauben. Aber irgendwie hat das einfach nicht so geklappt, wie ich es mir gewünscht habe."
Felix schweigt. Auch er schaut kurz weg, lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, ehe er mich wieder anschaut.
„Ist das auch der Grund, weshalb du dich schwer damit tust, Freunde zu finden?"
Ich bin so überrascht, dass ich erst nicht weiß, was ich sagen soll, doch dann nicke ich. „Ja. In abgeschwächter Form, aber ja. Ich glaube... ich habe einfach irgendwie das Gefühl, dass alle, die ich auf die eine oder andere Art in mein Leben lasse, mich früher oder später sowieso wieder verlassen werden."
Felix stößt einen langen, tiefen Atemzug aus, dann hebt er langsam einen Arm
Ich bin wie erstarrt. Erst zögere ich, sehe ihn ein wenig verunsichert an, doch dann lächelt er. Vorsichtig und kaum sichtbar, aber er lächelt.
„Jetzt komm schon her."

Heavenly (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt