Kapitel 9

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Obwohl ich mich aufrichtig für Kim freue, nagen die Neuigkeiten doch mehr an mir, als ursprünglich gedacht. Seit fast fünf Jahren wohnen wir gemeinsam hier in dieser Wohnung und jetzt wird sie bald einfach weg sein.
Da ist dann niemand mehr, der kommentarlos darüber hinwegsieht, dass ich überall meine Sachen liegenlasse, niemand, der spätabends noch spontan eine Lasagne kocht weil „hatte ich halt Lust drauf, willst du auch ein bisschen?" und niemand mehr, der mir jedesmal, wenn sie sich einen Kaffee macht, ganz selbstverständlich auch einen hinstellt.
Ich atme stoßweise aus und renne schneller. Die Musik in meinen AirPods ist so laut, dass mir vom Bass eigentlich der Kopf platzen sollte, aber seltsamerweise fühlt die Lautstärke sich gerade genau richtig und angenehm an. So muss ich wenigstens nicht darüber nachdenken, wie es jetzt weitergeht.
Ob ich mir eine neue Mitbewohnerin suchen muss, ob es zeitweise erstmal ohne geht - und wenn ja, wie lange - oder ob ich die Wohnung vielleicht kündigen und in eine kleinere ziehen muss. Letzteres würde mir das Herz brechen - ich habe mich über die Jahre wirklich daran gewöhnt, hier zu wohnen und würde es ohne zu zögern als mein „Zuhause" bezeichnen.
Die Sorgen, die mich seit Kims Verkündung umtreiben, haben mich vorhin schließlich dazu verleitet, meine Jogging-Klamotten anzuziehen und rauszugehen. Und wie ich jetzt merke, war es genau die richtige Entscheidung.

Schnell laufe ich durch den Volksgarten und intensiviere mein Tempo, ehe ich schließlich langsamer werde und zum Stehen komme. Schwer atmend beuge ich mich vor und stütze meine Hände auf meinen Kniescheiben ab.
Tief atme ich ein und aus. Anscheinend habe ich gar nicht gemerkt, was ich gerade für ein Tempo draufhatte aber jetzt, wo ich zum Stehen gekommen bin, merke ich deutlich, wie doll mein Herz schlägt. Ein Blick auf meine Apple Watch zeigt mir, dass ich mich wohl überanstrengt habe. Ich stoße hörbar Luft aus und richte mich langsam wieder auf.
Sport tut gut. Sport hilft mir dabei, den Kopf freizubekommen. Trotzdem bin ich jetzt fix und fertig. Wahrscheinlich sollte ich mich es für heute gut sein lassen und mich auf den Rückweg machen.

Nachdem ich ausgiebig geduscht und es mir auf der Couch bequem gemacht habe, kommt Kim zu mir ins Wohnzimmer. Ein wenig überrascht schaue ich zu ihr auf. Sie hat sich ein Kleid angezogen und die Haare hochgesteckt, das Glitzern auf ihren Augenlidern blendet mich fast.
Anerkennend pfeife ich durch die Zähne. „Wow. Hast du heute noch was besonderes vor?"
Sofort verzieht sich ihr linker Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Nee, dachte einfach, ich brezel mich mal auf für unseren Fernsehabend." Sie lacht.
„Jonas hat mich spontan zum Essen eingeladen. Er meinte, zur Feier des unterschriebenen Mietvertrages und so."
Ein wenig matt lächelt sie mich an und ich muss ein Seufzen unterdrücken. Ich kann ihr ansehen, dass sie insgeheim ein schlechtes Gewissen hat, weil sie mich allein zuhause zurücklässt, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
„Dann viel Spaß!" Ich lächele sie an und erhebe mich von Sofa. Wir umarmen uns kurz.
„Danke", sagt sie und lächelt ebenfalls. „Falls was ist, bin ich erreichbar, okay?"
Sie winkt mir mit ihrem Handy zu und ich muss lachen. „Keine Sorge, ich bin schon groß", antworte ich und winke ab.
„Macht euch einen schönen Abend, ja?" Sie nickt. „Also... ich werd wahrscheinlich dann auch direkt bei ihm übernachten", sagt sie ein wenig verunsichert, doch ich lache nur und wackele vielsagend mit den Augenbrauen.
„Das will ich doch hoffen. In meiner Wohnung will ich keine Sexgeräusche hören!"
Kim lacht. Und glücklicherweise lässt sie die Tatsache, dass ich „meine" anstatt „unsere" Wohnung gesagt habe, unkommentiert.

Eine Stunde später schalte ich den Fernseher aus. Ich hatte mir eine Pizza bestellt und es mir mit zwei Folgen „modern family" auf der Couch bequem gemacht, aber jetzt kann nicht mal Phil Dunphy mich aufheitern.
Ein paar Sekunden lang starre ich auf den schwarzen Bildschirm. Das ist er also. Der erste Vorgeschmack darauf, wie es sein wird, wenn ich alleine hier wohne. Eigentlich kann es ja nur von Vorteil sein, wenn ich mich besser früher statt später daran gewöhne, aber aus irgendeinem Grund wurmt es mich gerade extrem.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy. 21:30 Uhr. Es ist Freitagabend 21:30 Uhr und ich hocke alleine zuhause und weiß nichts mit meinem Abend anzufangen. Verdammt, ich bin 29! Eigentlich sollte ich gerade bei einer Freundin zum Vorglühen sein und den restlichen Abend beschwipst in irgendeiner Bar verbringen.
Fast schon verärgert über mich selbst stoße ich ein Schnauben aus. Freundin, ja klar. Da war ja was.
Kurzentschlossen stehe ich auf. Nur, weil ich niemanden habe, den ich jetzt spontan anrufen kann, heißt das nicht, dass ich nicht trotzdem in die Bar gehen kann....

Eine Dreiviertelstunde später laufe ich die Brüsseler Straße entlang. Da ich in meinem spontanen Enthusiasmus nicht groß Zeit für Frisur und Makeup verschwenden wollte, mussten Concealer und ein wenig Mascara reichen. Meine Haare habe ich mit einer Klammer zur Seite gesteckt.
Ich laufe an einem veganen Café und dem Yogastudio vorbei, in dem ich die drei Anfängerkurse absolviert habe.
Eigentlich waren die Kurse gar nicht so schlecht gewesen. Die Instrukteurin war sehr nett und die Übungen eine perfekte Mischung aus entspannend und körperlich fordernd. Mein Rücken war mir tatsächlich sehr dankbar dafür gewesen, dass ich hingegangen war. Eigentlich ist es wirklich schade, dass ich das nicht fortgeführt habe. Und das nur, weil ich so verbittert und verzweifelt dieser einen Sache hinterherjage...

Gib dir einen Ruck, Madeleine! Man kann nun mal nicht auf Knopfdruck Freunde finden. Je eher ich das akzeptiere, umso leichter wird es mir im Endeffekt wahrscheinlich fallen. Ich sollte mich nur mal etwas lockermachen.
Mit diesem Gedanken und einer Extraportion Selbstbewusstsein steuere ich die Kölschbar an.
Als ich die kleine Kneipe betrete, schlägt mir sofort eine Duftwolke von Alkohol und Rauch entgegen, obwohl man hier drin bestimmt nicht rauchen darf.
Ich ignoriere den unangenehmen Geruch, mache mich auf den Weg zum Tresen und werfe dem gutaussehden Barkeeper ein freundliches Lächeln zu.
„Hi! Ein Kölsch, bitte."
Nachdem ich das Getränk entgegen genommen und direkt bezahlt habe, bleibe ich noch ein wenig am Tresen sitzen. Ich schlürfe an meinem Bier und beobachte die Menschen um mich herum.
Das Publikum besteht größtenteils aus Männern, die ein Fußballspiel auf dem Fernseher verfolgen aber hier und da sitzt auch die ein oder andere Frau dazwischen.
Vielleicht ist das ja endlich die Gelegenheit, meine zukünftige beste Freundin oder von mir aus auch nur die nächste Shoppingbegleitung kennenzulernen... doch ich komme gar nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu denken, denn plötzlich höre ich hinter mir eine Stimme, die mir merkwürdig vertraut ist.
„Mann, Tommi, ich hab doch gesagt, hier ist viel zu voll! Lass lieber direkt wieder gehen."

Heavenly (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt