#123 Das letzte Gericht

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Wie immer sich Tayla Greenmar es vorgestellt hatte, wie es sei, wenn eine höhere Macht, wenn die Götter über einen urteilten, wenn man vor dem stände, was man allgemein Totengericht nannte, es war nicht so wie sie erwartet hatte.
Weder verhörte Issan sie, noch bestrafte er sie physisch.
Er durchforstete ihre Erinnerungen nach all den Malen an denen sie über andere geurteilt hatte, an denen sie andere gedemütigt, herabgesetzt oder verspottet hatte.
Jedes Mal wenn er so ein Ereignis fand, dann erweckte er ihre Erinnerung daran auf. Und dann ließ er sie fühlen was diejenigen gefühlt hatten, über welche sie geurteilt hatte, welche sie herabgesetzt, entwürdigt und verspottet hatte.
Angefangen mit den Gefühlen von Leton als sie ihn als Monster beschimpft hatte.
Bald schon war von der selbstgewissen, überheblichen Tayla Greenmar nichts mehr übrig.
Und Issan beschränkte sich nicht auf diese. Der ganze Saal durfte an ihren Erinnerungen teilhaben. Und an den Gefühlen die sie ihren Opfern verursachte.

Während Tayla Greenmar heulte und wimmerte und um Gnade bettelte, um eine Chance weiterzuleben und es besser zu machen, es wieder gut zu machen, Vergebung zu erlangen, harrten die anderen Anwesenden mit blassen Gesichtern und banger Miene aus.
Sie alle wussten, dass Issan auch bei ihnen fündig werden würden.
Und sie alle hatten Angst zu empfinden was die empfanden, denen sie sich einst überlegen wähnten, denen sie mit Überheblichkeit und Vorurteilen begegnet waren.

Nach Tayla Greenmar nahm sich Issan den Speaker of the House, Owon Carthonson vor.
In dessen Erinnerungen fand er seinen jüngeren Bruder Tyson Carthonson. Und dessen Vorliebe für das eigene Geschlecht. Und all das was Owon Carthonson ihm diesbezüglich gesagt und angetan hatte. Nicht alleine natürlich. Aber es hatte ausgereicht, dass der arme Tyson Carthonson sich im Alter von einundzwanzig Jahren suizidiert hatte. Mit einem Strick in der Feuerwache wo ihr gemeinsamer Vater stellvertretender Chief war.

Issan ließ Owon fühlen was sein Bruder Tyson gefühlt hatte bis er sich das Leben nahm.
Das war mehr als ein Mensch ertragen konnte, zumindest war es mehr als Owon Carthonson ertragen konnte.
"Aufhören, aufhören" schrie er wie irre und hielt sich die Ohren zu, als würde das Issan daran hindern ihn mit dem zu konfrontieren, was er seinem eigenen Bruder, was er vielen anderen angetan hatte.

Issan aber dachte garnicht daran aufzuhören und so sprang Owon Carthonson auf, rannte aus dem Saal und hinauf auf das säulengetragene Vordach des Limama State House.
Kurz sah er hinab auf den Platz auf dem Issans V-37P stand und auf dem sich inzwischen wieder sehr viele Schaulustige versammelt hatten die Bang zum dem weißen Kuppelbau sahen.

"Das ist das Ende!" schrie Owon Carthonson zu den Menschen auf dem Platz hinab, "er sieht alles, er weiß alles und er richtet euch alle!"
Dann sprang er.
Den Aufschlag aus vier Stockwerken Höhe auf der Treppe überlebte er nicht.

Unruhe erfasste die Menge.
Der Präsident des Deputy House of the Confederated States hatte sich vor ihren Augen in den Tod gestürzt. Hinab auf eine Treppe auf der noch deutliche Spuren des gewaltsamen Todes von Polizisten zu sehen waren, auf denen noch der Leichnam des Chiefs der Confederated State House Police lag, die Waffe noch in der Hand mit welcher er sich anscheinend selbst erschossen hatte.
Dazu die überlebenden Polizisten, welche wirre Geschichten erzählten von einem übermenschlichen Wesen, welches hier gelandet sei und nun die Spitzen ihres gerade erst gegründeten Staates richten würde.

Nach dem Speaker richtete Issan nun seine Aufmerksamkeit auf niemandem geringeres als Finison Jeffer, den amtierenden Präsidenten der Confederated States of Southern Antautica.
Der hatte zwar nicht gerade seinen Bruder in den Tod gemobbt und auch, was die Testudianer anging, konnte man ihm einen gewissen Respekt nicht absprechen.
Das galt allergisch nicht für seine Haltung und seinen Umgang mit den Nachfahren der friqiyanischen Sklaven im Lande.
Zur Frage, ob Schwarze zu Bürgern der CSSA werden könnten, hatte er allen ernstes geschrieben:
"... dass Personen der friqiyanischen Rasse jetzt und in Zukunft nicht als ‚Teil des Volkes‘, oder Bürger, im Rahmen der Verfassung der Konföderierten Staaten anerkannt werden können..."
Ähnlich verharmlosend hatte er sich zum Thema Sklaverei geäußert.
Das Issan ihn mit den Gefühlen derjenigen konfrontierte die er mit solchen Äußerungen verletzte und degradierte ließ ihn und auch viele andere Anwesende ziemlich kalt.

Das Erbe der Götter (zensierte Variante)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt