Nachdem der Schneider ihn zügig abgemessen hatte, spazierte Nymeris durch die hellen Gänge und staunte über die kunstvollen Bauten. Jede Säule besaß Muster und Schnörkel die entweder hineingehauen waren oder aus der Oberfläche hervortraten. Die hellen Wände sorgten für ein angenehmes Ambiente und man fühlte sich nicht eingeschlossen. Alles war offen und in die Natur hineingebaut.
Violet hatte ihm hastig den Weg zur Hauptbibliothek erklärt. Die größte und schönste, laut ihr, welche direkt an die Küsten zum Meer führten.
Die goldene Kugel lag schwer in seiner Hand. Vielleicht konnte er hier ja etwas über diesen Apparat herausfinden, denn noch einmal würde er nicht auf den Trick der Seeschlange hineinfallen.
Er versuchte die seltsamen Blicke der Diener und Wachen zu ignorieren und sich daran zu erinnern, dass es Jahrhunderte her war, dass hier ein Geflügelter durch die Gegend spaziert ist. Nymeris wanderte einige Minuten lang durch den Palast und blieb hin und wieder vor den großen Fenstern stehen, oder beobachtete einige Seeschlangen dabei, wie sie sich um den Garten kümmerten. Zu seiner Überraschung sah jeder von ihnen so aus, als würde er seine Arbeit genießen.Als er schließlich vor einem gigantischen Flügeltor zu stehen kam, traute er seinen Augen nicht mehr. In das Holz der Türe waren wunderschöne Schnitzereien eingearbeitet, die Drachen, Seeschlangen und sogar Wyvern zeigten in einer seltsamen Konstellation. Jedes Wesen war umgeben von Sternen oder seltsamen Kugeln.
Er konnte nicht anders, als mit seinen Fingerspitzen über das glatte Holz zu streichen. Es war eigenartig warm unter seiner Haut und stemmte sich ihm entgegen, als er mit all seiner Kraft einen Flügel öffnete. Die Türe knarrte als sie sich öffnete und sofort kam ihm der Geruch von Büchern entgegen. Nymeris ließ das Tor hinter sich zu fallen und stand für einen kurzen Moment bloß da, während er diese atemberaubende Konstruktion anstarrte. Die Decke bestand aus einer gigantischen Glaskuppel, die aus mehreren kleinen fenstern bestand, von denen einzelne geöffnet waren, sodass eine angenehme Brise hier und da durch die riesengroße Bibliothek fegte. Abertausende Bücher stapelten sich in deckenhohen Regalen, zu denen man mithilfe von Leitern gelangte. In der Mitte stand eine seltsame Kugel, umgeben von mehreren kleinen Kugeln. Er hatte so etwas ähnliches bereits in der Bibliothek der Hauptstadt gesehen, einen Globus, doch diese vielen kleinen Kugeln machten ihn unsicher, ob es sich nun wirklich um ein solches Konstrukt handelte.
Das südliche Ende der Bibliothek war offen und führte auf eine Terrasse hinaus. Am meisten jedoch bewunderte er das Loch im Boden. Kein Geländer, keine Treppen die nach unten führten. Einfach ein großes Loch, dessen Boden aus türkisem Wasser bestand.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit, als er in die Tiefe sah. Obwohl das Wasser keinesfalls bedrohlich auf ihn wirkte, hatten die Träume und vor allem die Tatsache, dass er nicht schwimmen konnte, doch klare Spuren hinterlassen. Langsam trat er von der Kante weg und entfernte sich einige Schritte davon. Jetzt wurde es Zeit, sich den wichtigen Dingen zu widmen: den Büchern. Es musste sich um zehntausende davon handeln. Mindestens. Die Schriftrollen nicht eingeschlossen. Alles war so gigantisch und schön. Nicht ein einziges Staubkorn lag auf einem Einband und auf nicht einem Tisch herrschte Chaos.
Alles war sorgfältig sortiert und aufgeräumt, wie es auch sein sollte. Durch die Sonne, die durch die Glaskuppel schien, hätte die Halle eigentlich warm sein müssen, doch die dort herrschende Temperatur war tatsächlich beinahe angenehm. Nymeris vermutete, dass es etwas mit dem Wasserloch im Boden zu tun hatte, von dem kühle Luft nach oben stieg, wie auch immer das funktionierte.
Was wollte er denn jetzt überhaupt lesen? Die Kugel!
Natürlich! Die hatte er beinahe völlig vergessen. Die glänzte im Sonnenlicht und hatte sich durch seine Körperwärme ebenfalls erwärmt. Der Wyvern trat an einen der Tische heran und schlüpfte dann aus der dünnen Stoffjacke, die er sich übergeworfen hatte, welche er sorgfältig zusammenlegte um die goldene Kugel darauf betten zu können. So rollte sich nicht weg.
Jetzt musste er noch herausfinden, nach welchem System die Bücher geordnet waren....
Nys verbrachte den gesamten Nachmittag in der Bibliothek. Kurz vor Sonnenuntergang waren ein paar Seeschlangen gekommen und hatten zahlreiche Laternen entzündet, die ihm nun Licht spendeten. Das Wasserloch im Boden wirkte nun bodenlos und dunkel. Alles, was er bisher herausgefunden hatte war, dass die Kugel eine Art Schlüssel brauchte, um funktionieren zu können. Zumindest war das auf einem Bild zu sehen gewesen, denn die Schriftzeichen dieses Buches hatte er nicht entziffern können. Es musste die alte Sprache der Urdrachen sein, die schon seit etwa tausend Jahren nicht mehr gesprochen oder geschrieben wurde. Nicht das Ergebnis, das er sich erhofft hatte, aber dennoch ein kleiner Fortschritt. Auch wenn er gerne noch weiter gelesen hätte, es war ihm wichtiger pünktlich beim Abendessen zu erscheinen.
Nymeris drehte sich nicht um, als die Tore geöffnet wurden, sondern klappte die beiden Bücher auf dem Tisch zu und machte sich dann daran, sie wieder aufzuräumen. Er hatte versucht ein paar Wörter zu übersetzen, doch dabei war nichts sinnvolles herausgekommen. Zu ähnlich waren die Buchstaben und Ziffern. Immerhin hatte er jetzt etwas zu tun, für die nächsten sechs Monate...wenn ihm dabei keine gewisse Seeschlange in die Quere kam...
Als Nys das letzte Buch zurück ins Regal stellte und sich umdrehte, fiel sein Blick auf zwei junge Seeschlangen, die an seinem Tisch standen. Junge Männer, die vielleicht so alt waren wie er, es war schwer einzuschätzen, ob sie nicht doch ein paar Jahrhunderte älter waren als er. Leicht hingegen war es zu sehen, dass einer der beiden sich an seiner Kugel vergriffen hatte.
Wenn der Wyvern eine Sache an sich hasste, dann das feurige Temperament der Drachen, das ihn viel zu schnell dazu brachte, wütend oder trotzig zu werden. Auch wenn er guten Grund dazu hatte, immerhin gehörte diese Kugel ihm, denn Ash hatte sie ihm geschenkt, doch ob das als Erklärung reichte, sollte er die beiden und die Hälfte der Bibliothek grillen? Wohl eher nicht.
Also schluckte Nys die aufsteigende Wut hinunter und versuchte sich zu beruhigen. Er spürte wie sein Körper danach schrie, sich zu verwandeln. Wenn er so darüber nachdachte, konnte das auch andere Gründe haben. Es war bereits einige Tage her, seit er sich das letzte Mal verwandelt und seine wahre Natur sich zeigen durfte.
,,Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du meine Kugel wieder dort hinlegst, wo du sie her hast.", Nymeris versuchte gar nicht erst die beiden einzuschüchtern, sie waren größer und stämmiger als er und blickten eher auf ihn herab. Also musste er es auf die gute alte freundliche Art probieren.
Er blieb am anderen Ende des Tisches stehen und musterte die beiden.
,,Deine? Warum sollte jemand wie du im Besitz einer solchen Kostbarkeit sein? Es würde mich wundern, wenn du wüsstest, was das ist.", er warf die Kugel von einer Hand in die anderen und ging um den Tisch herum, in seine Richtung. Sein Haar war zu unzähligen dünnen Zöpfen geflochten, die erst eng an seinem Kopf anlagen und schließlich locker über seine Schultern fielen. Der andere der beiden sagte nichts, grunzte jedoch amüsiert.
Nymeris schnaubte. So viel dazu. Er verschränkte die Arme vor er Brust und raschelte mit den Flügeln. Er legte sie an und versuchte so zumindest ein wenig imposanter zu wirken, als er eigentlich war. Bei Rune funktionierte das immer.
,,Das ist nicht von Belang. Wenn du sie nicht zurücklegen willst, gib sie mir einfach.", er streckte seine Hand aus und entfaltete seine Flügel ein wenig. Jedes Mal wenn die Kugel durch die Luft flog setzte Nys Herzschlag für einen Moment aus. Er hatte zwar noch nie Seeschlange gekostet, war aber bereit es zu tun, sollte diese Kugel zu Boden fallen. Vielleicht sogar beide.
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Drachenherz
Romance21 Jahre nach Drachenblut! Um ein Bündnis mit den Seeschlangen, einer Unterart der Drachen, angesiedelt an Küsten, zu besiegeln, soll Nymeris deren König heiraten, doch als er sich dagegen sträubt, macht Ash, der Seeschlangenkönig, ihm ein verlocken...