66. Reh im Scheinwerferlicht

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Endspurt ins Wochenende!! 🎉

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Samia POV

Zittrig ließ ich mich neben der Toilette an der Wand auf den Boden gleiten nachdem ich mich mehrfach übergeben hatte.
Lautlose Schluchzer schüttelten noch einige Minuten meinen kraftlosen Körper, bis ich schließlich meine Knie an die Brust zog und meinen Kopf vor Erschöpfung ungebremst nach hinten an die Wand kippen ließ.

Mark war voller Blut und Dreck gewesen, die Haare längst nicht mehr so akkurat wie sonst und sein Blick hatte mir die Frage beantwortet, die ich nie im Leben gestellt hätte.

Dieser Mann hatte jemanden ermordet und das ganz offensichtlich mit bloßen Händen. Wieder rebellierte mein Magen bis nichts mehr kam.
Während mich diese Tatsache beinahe durchdrehen ließ, schien es die Männern eben kein bisschen mehr beschäftigt zu haben und ich unterband die augenblicklich aufkommende Schlussfolgerung, dass es sich um deren Tagesgeschäft handelte.

In der Theorie war mir zwar bewusst gewesen, zu was diese Männer fähig waren, doch meine Naivität hatte diese Tatsache bis eben so gut es ging aus meiner Version der Realität ausgeklammert.

In diesem Moment hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich auch nur eine weitere Minute in der Gegenwart dieser Männer durchstehen sollte und ich hatte das Gefühl, mir selber dabei zuzusehen, wie ich mich aufgab.

Immer wieder blitzten Bilder von den aufgeplatzten Knöcheln des Mannes vor meinem inneren Auge auf und mein Gehirn fügte grausame Sequenzen von brutalen Schlägen, riesigen Blutlachen und leblosen Körpern hinzu.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und im Sekundentakt wechselte mein Temperaturempfinden von eiskalt zu unerträglicher Hitze und als sich die grausamen Bilder in meinem Kopf mit meinem eigenen Gesicht mit leerem Blick füllten, sprang ich keuchend auf.

Die Wände des eigentlich geräumigen Gästebads kamen immer näher und ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. Hier konnte ich nicht länger bleiben, meine Lungen lechzten nach Sauerstoff und zugleich wollte ich diese Tür nie wieder öffnen um keinem der Männer nochmal gegenüber zu stehen.

Wieder und wieder stellte ich mir die selbe Frage und fand noch immer keine Antwort.
„Warum bin ich noch am leben?"
Egal wie ich die vergangenen Stunden und Tage drehte, wendete und bis ins letzte Detail erneut durchspielte, ich kam zu keinem erklärenden Ergebnis.

Atemlos schloss ich möglichst geräuschlos die Tür auf, öffnete sie und schlüpfte wie in Zeitlupe zurück in den Flur, nachdem ich mich mehrfach versichert hatte, dass niemand dort war, um mich in Empfang zu nehmen.

Ich verließ mich auf Stefans Worte, dass die Regeln nach wie vor Gültigkeit hatten und ich mich somit frei auf dem Gelände bewegen durfte.
Als ich ungesehen das Gebäude verließ, atmete ich zittrig und gierig die frische Luft ein und entfernte mich ohne zu zögern schnellen Schrittes vom Haus oder eher gesagt von der feindlichen Festung. Dabei musste ich mich zusammenreißen nicht loszurennen. Dass das keinen Sinn hat, hatte ich ja zuvor schon festgestellt und noch einen weiteren gescheiterten Fluchtversuch würde ich so schnell nicht wieder verkraften. Wenn ich einen neuen Ansatz starten würde, musste ich mir alles ganz genau zurechtgelegt und einen wasserdichten Plan geschmiedet haben.
Die Tatsache, dass ich maximal bis auf die andere Seite der Mauer planen konnte, weil ich nicht auch nur den blassesten Schimmer hatte, wo wir hier überhaupt waren ließ ich zunächst außenvor. Ebenso die Gedanken, ob ich es in irgendeine belebte Gegend schaffen und ich rechtzeitig untertauchen könnte bis diese Monster merken würden, dass ich abgehauen war.

Kraftlos ließ ich mich unter der tief hängenden Weide an der selben Stelle wie zuvor ins hohe Gras fallen und hoffte auf einige ruhige Stunden ohne Angst und Schmerz.

Während ich auf den See starrte, verbot ich mir jegliche Fragen in meinem Kopf, die sonst unaufhörlich durcheinander schrien. „Wie geht es weiter?" „Wann kommen sie mich holen?" „Haben sie mich vielleicht doch verkauft?" „Werde ich jemals wieder ein normales und angstfreies Leben führen können?"

All diese Fragen stellte ich so gut es ging lautlos und ich konzentrierte mich stattdessen darauf, wenigstens etwas zu Kräften zu kommen.

Ich konnte gar nicht sagen, wie lange ich dort auf dem selben Fleck gesessen und in die Ferne gestarrt hatte aber irgendwann begann die Sonne sich in knalligen Farben hinter den Hügeln am Horizont zu verstecken und der leichte Wind trieb immer wieder Schauer von Gänsehaut über meine Arme.
Das störte mich jedoch nicht, denn es zeigte mir, dass ich noch am Leben war und ich war heilfroh, einfach für mich zu sein.

Gerade als ich die Wahrscheinlichkeit abschätzte, zu der das gesamte Gelände auch hinter dem See vollständig eingezäunt und eine Flucht auf dem Wasserweg deshalb ebenso zwecklos wie mühsam war, zerplatzte die Ruhe um mich, wie eine Seifenblase.

Die Schritte hatte ich viel zu spät vernommen und als ich aufspringen wollte, wurde ich schon zu Boden gedrückt und etwas legte sich schwer um mich.

Der Mann, der vermutlich James hieß, hatte mir ruppig eine Decke umgelegt und mir keine Sekunde gegeben, in irgendeiner Form zu reagieren.
Schockiert sah ich den Mann an. Schockiert zunächst eher über das was er getan hatte und weniger über seine plötzliche Anwesenheit.

Ich verstand die Welt nicht mehr und gerade als ich mich zu einem „Danke" durchringen wollte, zischte der Mann mich gefährlich von oben herab an.

„Schau mich nicht so an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich habe das sicherlich nicht für dich gemacht oder weil mir was an deinem Wohlbefinden liegt. Ich führe nur ein Auftrag aus und werde dich ums Verrecken nicht so verhätscheln wie die anderen."

Unfähig, etwas auf seine harschen Worte zu erwidern, starrte ich den Mann noch einige Sekunden an, ehe ich ertappt wegsah, denn genau dieses Anstarren hatte er schließlich gerade kritisiert.
Mir war unwohl, so schutzlos vor ihm zu sitzen, während er mich im stehen um sicherlich ein halbes Dutzend Köpfe überragte.
Als ich mich jedoch nur einen Zentimeter bewegte, spürte ich augenblicklich wieder seinen stählernen Griff an meiner Schulter, der sich schmerzhaft und unerbittlich in meine Muskeln schnürte.

„Du bleibst gefälligst sitzen und wehe du wagst es aufzustehen. Dann bin ich gerne bereit, dir unser wahres Gesicht zu zeigen. Wenn es nach mir ginge, wären wir dich längst los."

Ich schluckte trocken als die Bedeutung seiner Worte zu mir durchdrang und wie Eisregen auf mich niederprasselte. Und doch schöpfte ich Hoffnung aus seiner Botschaft, dass ich nicht erwünscht war.

„Dann lass mich doch gehen und ich verspreche du siehst mich nie wieder." fiepste ich flüsternd, selber überrascht, wie verzweifelt ich mich an jeden Strohhalm klammerte.

Ein eiskaltes Lachen über mir ließ jedoch jede Hoffnung augenblicklich zerspringen.

„Bist du wirklich so blöd oder machst du uns hier allen was vor? Du glaubst tatsächlich, dass einer von uns dich hier rausspazieren lässt und dann bist du raus aus der Nummer?" noch immer lachte der Mann und es schrillten alle Alarmglocken in mir.
Innerlich ohrfeigte ich mich für diese unüberlegten Worte und konnte nur meinen Kopf beschämt senken.

Unsanft wurde dieser jedoch wieder nach oben gedrückt.
„Sieh mich gefälligst an wenn ich mit dir spreche!" spuckte James mir ins Gesicht.
„Mir würden tausend Dinge einfallen, die ich mit dir anstellen könnte aber dich gegen zu lassen gehört leider nicht dazu, Schätzchen.
Hier unten auf dem Boden gefällst du mir ehrlich gesagt schon richtig gut und vielleicht testen wir mal deine Qualitäten durch."

Alles drehte sich. Oben und unten hatten die Bedeutungen verloren und es fühlte sich an, als würde ich ins Bodenlose fallen. Hätte ich nicht schon vor wenigen Stunden alles erbrochen, was ich überhaupt zu mir genommen hatte, hätte ich es jetzt getan. Seine Worte waren wie Gift in meinen Muskeln, welches Bewegungen unmöglich machte und erst als seine Hand sich grob in mein Haar schloss und meinen Kopf nach hinten zog, kehrte Leben zurück in meine bleiernen Muskeln.
Blitzartig rollte ich mich nach rechts weg, ehe der Griff in meinem Haar sich nicht mehr lösen ließ und ich ignorierte den feurigen Schmerz an meiner Kopfhaut.
Nachdem ich außer Reichweite war, sprang ich auf und raste davon. Auf der Flucht verhedderte ich mich in der Decke und landete unsanft auf dem Boden, rappelte mich aber augenblicklich wieder hoch während der Mann seelenruhig mit den Händen in der Tasche auf mich zuschlenderte.
„Lauf nur, kleines Rehkitz, lauf! Ich kriege dich so oder so irgendwann."

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