Transgenerationale Übertragungen

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17.08.2024

Was ist eigentlich falsch mit mir? Ich kann nichts wegschmeißen. Nichts, das irgendwie einen Wert hat. Müll kann ich wegschmeißen, zum Glück. Aber heute hab ich den ganzen Tag gekämpft. Seit Tagen eigentlich schon. Ich hatte ein T-shirt zum Schlafen an, das ist bestimmt schon 15 Jahre alt. Der Stoff dünnt sich so sehr aus, dass seit längerem Löcher drin sind. Egal, zu schade zum Wegschmeißen, zumindest bis ich es beim letzten Mal aus der Wäsche geholt habe. Vier große Löcher, wo meine Finger durch passen. Dazu noch die, die ich bereits gestopft hatte. Einmal wollte ich das nun noch zum Schlafen anziehen, normalerweise trage ich meine Schlafsachen 4 Nächte und dann wird getauscht. Diese 4 Nächte sollte das T-shirt noch erleben, sonst hätte ich ja Wasser verschwendet, um es zu waschen.

Die letzten vier Nächte habe ich immer auf diese Löcher gestarrt. Man kann auch schon genau sehen, wo die nächsten Löcher entstehen würden, wenn ich es nochmal waschen würde. Ich hab mir vier Nächte eingeredet, dass ich das Teil wegschmeiße, ich bin stark genug. Ich bin erwachsen, da kann man dann T-shirts wegschmeißen. Das hab ich mir so eingeredet. Es ist ja auch nicht geil, mit diesen Löchern zu schlafen, weil bei dem einen die ganze Zeit mein Nippel durch guckt.

Heute morgen war es so weit, die Wäsche sollte angestellt werden, nachdem ich aufgewacht war. Die dazu passende Hose ist noch irgendwie gut, obwohl auch nicht wirklich, aber kein Loch, also kann man die noch tragen. Das T-shirt hab ich angelassen, damit ich nicht irgendwie doch dazu komme, es in die Maschine zu legen. Ich hab versucht, mein Gehirn so richtig aus zu tricksen. Und dann wars so weit, das T-shirt war ausgezogen und sollte weg. Aber es ging nicht. Es lag erstmal für 2 Stunden auf meinem Bett und hat mich angesehen. Ich wollte rational sein. 15 Jahre, da ist es okay, etwas weg zu schmeißen. Ich hab auch gerade erst neue Schlafsachen gekauft. Es kann weg, ich hab einen Ersatz. Es hat Löcher, was soll ich damit.

Jaja, ich war erwachsen dann, ich habs zusammen gelegt und in den Müll geworfen. Aber das muss nichts heißen. Ich blamiere mich im Internet, aber egal. Der Ablauf ist nicht neu. Nur weil es im Müll liegt, heißt es nicht, dass das ganze vorbei ist. Das letzte mal, als ich dort Socken mit Löchern reingelegt hatte, die man wirklich nicht mehr anziehen kann, hab ich sie wieder raus geholt und gewaschen. Dieses mal sollte das nicht so sein, ich hab es extra tief rein gedrückt. Damit ich es nicht jedes mal sehe, wenn ich noch was hinterher werfe. Ich hab extra Flüssigkeiten drauf laufen lassen von meiner Kiwi. Damit ich es dadrin lasse. Wer holt schon ein T-shirt mit Löchern und so ekelhaften Flüssigkeiten wieder aus dem Müll?

Aber das hilft nicht. Jedes mal, wenn ich den Müll aufgemacht habe, habe ich überlegt: holst du das Teil jetzt wieder raus? Man könnte es nochmal anziehen. Ich wusste, es geht nicht, ich muss erwachsen sein. Also habe ich den Müllbeutel, der nicht mal halb voll war, rausgebracht. Wie peinlich wäre das, wenn ich das T-shirt dort wieder rausholen würde, wenn meine ganzen Nachbarn mich dabei sehen würden? Das sollte mich nun retten. Hoffe ich. Ändert nichts an diesem seltsamen Gefühl, das ich in mir habe.

In einer der Abschlussprüfungen bei meinem Bachelor habe ich ein Essay geschrieben über Determination und transgenerationale Übertragungen. Quasi eine Psychoanalyse. Ich hab die Nachts um 2 geschrieben, weil meine Oma im Sterben lag. 1. konnte ich nicht schlafen und 2. wollte ich den Tag nicht am Laptop verbringen. Meine Oma lag im Sterben und sagte mir, ich solle mir ein Eis holen, während sie dort im Bett lag und seit Tagen nichts gegessen hatte. Warum? Weil ich mit meiner Oma immer Eis gegessen habe. Seit ich denken kann.

Ich bin mir heute zu 99,99% sicher, das viele meiner Ängste von ihr (und von meiner anderen Oma) kommen. Ich will ihr nichts vorwerfen, sie kann ja nichts dafür. Und eigentlich ergibt das gar keinen Sinn. Die Familien meiner Großeltern haben Dinge erlebt, die meine Eltern schon gar nicht mehr erlebt hatten. Meine Eltern sind ganz anders aufgewachsen als sie. Und ich bin nochmal anders aufgewachsen als meine Eltern. Und sie haben diese Probleme nicht. Aber ich hab sie. Dabei wurde mir das ganz sicher nicht beigebracht.

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