Vorurteile

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26.08.2024

Heute ist bei mir der Tag der Vorurteile. Warum? Es ging gar nicht direkt um mich, es kam nur mehrfach in Gesprächen mit mir zu dem Ereignis, dass mir jemand seine unterbewussten Vorurteile vorgetragen hat.

Das erste Vorurteil kam ganz früh morgens. Ich bin seit einigen Wochen auf so einer App angemeldet, wo man neue Leute kennenlernen kann, auf freundschaftlicher Ebene. Ich dachte mir nämlich, in diesem Büro, da finde ich keine neuen Freunde, da kommen ja nur Verrückte und irgendwie will man mit Kunden eh nicht befreundet sein.

Naja das klappt bei der App jetzt nur so mäßig, weil ich so schnell von Menschen gelangweilt bin. Ich habe keine Unterhaltung lang genug ausgehalten, um mich tatsächlich mit jemandem zu treffen. Ja, ich bin mir bewusst, dass ich das Problem bin und dass ich mir mehr Mühe geben sollte.

Auf jeden Fall bin ich für Smalltalk nicht geeignet, deshalb hatte ich diesen einen Typen auch direkt gefragt, ob er in seinem Leben Sexismus erlebt hat. Er hatte nämlich von sich selbst behauptet ein "Links-Grün-versiffter Feminist" zu sein. Ich musste ihn also fragen, es ging gar nicht anders. Aber: er ist gar kein Feminist. Habe ich aus seiner Antwort herausgehört. Dann haben wir uns gestritten. Ich bin Feminist und habe deshalb meine Prinzipien.

Jetzt mal davon abgesehen, dass er der Meinung war, es hätte für ihn nur Nachteile, ein Mann zu sein (dem würde ich ja schon widersprechen), hielt er es dann für notwendig, mir zu erklären, dass Frauen selbst Schuld seien, wenn sie nicht ernst genommen werden würden, weil sie ja so unsicher rüber kommen. Wie man das so (meiner Meinung nach) in einer guten Diskussion macht, wollte ich mir das von ihm weiter erleutern lassen. Und ich durfte mir dann ganz grauenvolle Vorurteile anhören, gegen Männer und Frauen.

Nachdem ich ihm widersprochen hatte, wollte er von mir wissen, was er denn jetzt meiner Meinung nach tun könne, damit Frauen nicht mehr unterdrückt werden. Das war für mich eine kindische Reaktion, die nur gezeigt hat, dass er das Problem an seinen Aussagen gar nicht verstanden hat. Aber ich habs trotzdem gemacht, ich hab ihm Vorschläge unterbreitet, wie er offener mit allen Mitmenschen umgehen könnte (hat ihm auch nicht gefallen).

Ich war dann schon vor der Arbeit sauer. Und war vor allem der Meinung, dass das mit dem Freunde finden erstmal nichts wird. Zumindest nicht online. Dafür bin ich nicht sozial genug.

Bei der Arbeit kam das nächste. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, ich erwarte ja grundsätzlich alles und nichts. Auf jeden Fall saß ich dort und mein Chef kam in mein Büro, um mir zu berichten: Heute kommt ein Autist. Eigentlich sollte er schon da sein. Danach Stille und er ging zurück in sein Büro.

Ich war irritiert, war das ein Witz? Meint er mich? Hat er mich durchschaut? Meint er einen Kunden? Meint er meine neue Kollegin, die heute um 11 Uhr zum Gespräch eingeladen war? Die ist doch aber nicht autistisch, hat sie nicht gesagt oder geschrieben und man hätte das im Bewerbungsgespräch gemerkt. Ich bin ihm also hinterher und hab mich in den Türrahmen gestellt.

Na, ich hab jetzt einen Praktikanten. Das hat man mir natürlich mal wieder erst 5 Minuten, bevor der dann da war, erzählt. Ergänzend hat mein Chef dann noch alle möglichen Vorurteile gegenüber Autisten rausgehauen. Dass er unseren Taschenrechner ersetzen würde. Irgendwas programmieren würde. Auf jeden Fall hatte er ihm schon eine Inselbegabung diagnostiziert, bevor er jemals das Gebäude betreten hatte. Immerhin wurde der Praktikant durch irgendeine staatliche Institution bei uns untergebracht als Integrationsversuch, mein Chef kannte den also genauso wenig wie ich. Sein Schlusswort war nur "bei Autisten musst du vorsichtig sein" (so als wäre er ein Alien). Das hab ich als Anlass genommen, um ihm einfach mal zu erzählen, dass ich auch betroffen bin. Wir haben uns einige Sekunden lang schweigend in die Augen gesehen, bis er meinte "ja, aber bei dir ist das gut". Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.

Der Praktikant ist meiner Meinung nach ganz normal. Ich mag den richtig gerne, am liebsten würde ich den direkt bei uns einstellen. Er ist intelligent, unnormal ehrlich und vor allem spricht der die gleiche Sprache wie ich. Er kam rein mit den Worten: "Der Zustand des Hauses soll so bleiben?" und das fand ich unfassbar witzig. Das Gebäude ist ja schon uralt und überall regnet das rein. Er hat mich auch persönliche Dinge gefragt, ohne dabei höflich oder nett sein zu wollen, das fand ich wirklich gut.

Am besten finde ich, dass man mit ihm mehrere Gespräche gleichzeitig führen kann. Das kann ich sonst nur mit meinem Klon. Es fällt mir manchmal so schwer, meine Gedanken zu ordnen und wenn ich mit meinem Klon spreche, kann ich einfach mitten im Satz ein neues Thema anfangen und dann im nächsten Nebensatz den ersten Satz beenden, ohne dass es jemanden stört. Der Praktikant kann das auch und ich finde, dass das intellektuell stimulierend ist. Auch wie detalliert er mir alles erzählt, mein Gehirn hat das sehr gern. So etwas hatte ich mir ja eigentlich von meinem Versuch mit der App gewünscht.

Leider ist der nur eine Woche da, weil er insgesamt drei Praktika machen soll. Er muss auch noch in eine Kanzlei und zu einem Juristen ins Büro. Seit 2016 hat er nichts gemacht. Nur weil er Autist ist und es schwierig sein kann, eine Anstellung zu bekommen (auch wenn das offiziell wohl nie der Grund war). Ich will mir das nicht vorstellen, wie das für ihn ist. Ich hab gerade mal ein halbes Jahr Jobsuche hinter mir, er ja schon 8 Jahre. Deshalb auch dieser komische Integrationsversuch, den ich gar nicht mal so dumm finde. Immerhin hat er so in jedem Unternehmen die Chance, sich über einige Tage zu beweisen. Ein Bewerbungsgespräch ist dafür einfach zu kurz. Aber darüber habe ich mich ja schon in einem anderen Kapitel beschwert.

Ich habe bei der Arbeit viel gelacht, er hat auch viel gelacht und wir sind glücklich auseinander gegangen, kommen morgen früh hoffentlich genauso glücklich wieder zusammen. Zum ersten mal in meinem Leben freue ich mich darauf, nicht alleine in diesem Raum zu sitzen. Ich werde ihm ein nettes Praktikumszeugnis schreiben, in der Hoffnung, dass ihm das irgendwie in seinem weiteren Bewerbungsprozess hilft. Und danach wünsche ich ihm, dass er alles erreichen wird, das er sich vorstellt. Und mir wünsche ich, dass meine neue Kollegin wenigstens halb so kompatibel mit mir ist. Und dass ich nicht derjenige sein muss, der meine andere Kollegin nach 12 Arbeitsstunden feuern darf.



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