12; Grabrede

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Kira

Ich zog mir meine Jacke noch schnell über, bevor ich aus dem Haus ging und die Tür hinter mir schloss. Ich machte mich auf den Weg zum nächst gelegenen Kino, wo Elena auf mich warten würde. Da die Bahnstrecke 20 Minuten dauerte, stopfte ich mir Kopfhörer ins Ohr, nachdem ich mich auf einen Sitz am Fenster gesetzt hatte. Und wie so oft schon an diesem Tag dachte ich nach - über belanglose Dinge. Schließlich schweiften meine Gedanken zu dem Albtraum von heute Nacht. Es war tatsächlich so gewesen als hätte ich alles noch einmal von Neuem erlebt. Detailliert. Und es war nicht die einzige schlimme Erinnerung. Es gab noch schlimmere. Oder mindestens genauso schlimme.

Vor 6 Monaten

Ein kurzer Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich genauso schrecklich aussehe wie ich mich fühle. Mein schlichtes, schwarzes Kleid reicht bis zu meinen Knien und bedeckt meine Arme bis kurz unter die Ellbogen. Meine wilden Locken habe ich heute locker mit einer Haarspange hochgesteckt. Trotz Concealer und Mascara sehe ich fürchterlich verweint und müde aus. Ich frage mich, ob meine Müdigkeit von meinem Schlagmangel rührte oder ob ich Lebensmüde bin, weil ich momentan keinen Sinn mehr sehe.

Ich sehe keinen Sinn mehr.
Ich habe keinen Sinn mehr.
Ich fühle keinen Sinn mehr.

"Kommst du, Kira?" Ertönt die sanfte Stimme meiner Mutter von der Tür meines Zimmers. Auf ihre Frage folgt nur ein knappes Kopfnicken meinerseits. Ich sehe im Spiegel, dass Mum durch den Raum geht und hinter mir stehen bleibt. Sie löst die Haarspange aus meinen Haaren und diese fallen wie üblich in langen Locken über meine Schultern. Ich schaue sie durch den Spiegel verwirrt an. "Logan fand es so schön." Sie legt die Haarspange auf die Kommode neben meinem Spiegel. "Du bist nicht alleine." Sagt sie und legt mir von hinten eine Hand auf die Schulter.

"Ich weiß." Ich drehe mich zu ihr um und blicke mit müden Augen zu ihr auf. "Aber ich fühle mich so." Mum drückt mich an sich und ich atme ihren vertrauten Duft nach Vanille ein. Sie liebt dieses Parfüm.

"Ich habe eine Überraschung für dich." Sie löst sich von mir, nimmt meine Hand und führt mich die Treppe hinunter in die Küche. Dort sitzt jemand, den ich überhaupt nicht erwartet habe.

"Grandma?" Rufe ich und ihr Gesicht beginnt zu strahlen, als sie mich erblickt. Eigentlich hat sie gesagt, dass es zu weit wäre und sie auf die schnelle kein Flugticket mehr bekommen würde, aber anscheinend hat es doch noch geklappt.

"Kira?" Kommt es nur prompt von ihr zurück und ich fliege schon fast in ihre Arme, so sehr habe ich sie vermisst.

"Ich habe dich vermisst, Granny." Flüstere ich.

"Ich dich auch, Kira. Du musst jetzt ganz stark sein." Sie drückt mich von sich weg, um mir in die Augen sehen zu können. "Auch, wenn du dich so fühlst, du bist nicht allein." Ich nicke.

Die Beerdigung ist schlicht und still. Abgesehen von mir, Granny und Mum, sind noch Logans Eltern und seine Schwester da. Außerdem noch ein paar Angehörige, die ich noch nie gesehen habe. Sarah, seine Schwester, hat mir gesagt, dass es Verwandte sind. Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen und so weiter. Aber ich denke Logan ist es egal, ob diese Verwandten da sind. Die einzigen, die er hier hätte haben wollen, sind Sarah, seine Eltern und ich. Mit den anderen Menschen hatte er nicht viel zu tun gehabt. Und es ist mir vollkommen egal wie egoistisch das klingen mag. Ein Pfarrer hält eine bedeutungslose Rede über den Tod und spricht uns sein Beileid aus. Meiner Meinung nach hätte er auch einfach nichts sagen können. Es hätte den gleichen Effekt gehabt.

"Nun werden wir noch ein paar Worte von Logans Freundin Kira Lockwood hören." Ich stehe von meinem Platz in der 1. Reihe auf und gehe langsam nach in den vorderen Teil des Raumes, wo sein Sarg steht. Kurz werfe ich einen Blick hinein. Seine Augen sind natürlich geschlossen, er ist ordentlich angezogen, hat die kurzen Haare, die nach Beendigung der Chemotherapie etwas nachgewachsen sind, ordentlich zurechtgemacht. Mit dieser bleichen Haut und den hergemachten Haaren sieht er aus wie eine Puppe. Doch, als mein Blick von seinen Haaren auf das leichte Lächeln seiner blassen Lippen wandert, erkenne ich, dass er es tatsächlich ist. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich hier stehe, bis ich mich umdrehe und in die traurigen Gesichter der Menschen vor mir blicke.

Alive - Dylan O'Brien AUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt