Achtundzwanzig Jahre mussten vergehen, um zu sehen, wie Richard von einer auf die andere Sekunde komplett zerbrach.
Er sprang auf, drückte Till ins Polster des Sofas und rief „Sag, dass das nicht wahr ist!"
Till blieb ruhig, schluckte und erwiderte: „Es tut mir so leid."
Richard sank zu Boden.
Meine Kehle schnürte sich zu.
Ich bekam keine Luft und japste laut. Ich stürzte auf den Balkon und rang um Fassung.
Ich stützte mich auf dem Geländer ab. Es fühlte sich an, wie ein Schlag in die Magengegend.
Flake kam mir hinterher und legte mir seine Hand auf den Rücken, während ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
Damit hatte keiner von uns gerechnet.
Wir waren eben noch voller Zuversicht.
Alles würde gut werden. Ganz bestimmt.
Das konnte nicht sein. Ich blickte über Flakes Schulter in den Innenraum von Richards Apartment und sah Richard am Boden kauern. Darüber gebeugt Till, der sich selber mit dem Handrücken die Tränen aus den Augenwinkeln wischte.
Ich ließ mich an Flake heruntergleiten und landete auf meinen Knien. Flake hockte sich vor mich und streichelte mir die Schulter.
Wie in einem Filmausschnitt sah ich Juliets strahlendes Zahnpasta-Lächeln vor meinen Augen, wie sie Richard aus der ersten Reihe anhimmelte. Wie sie bei zahlreichen Proben dabei war. Wie sie und Richard uns freudestrahlend erzählten, dass sie ein Haus gekauft hatten. Die zahlreichen Dramen rund um ihre stark ausgeprägte Eifersucht und schlussendlich die Trennung aufgrund des Betruges Richards gegenüber.
Die zahlreichen Lügen und der endgültige Kontaktabbruch, bis ich sie am Ende in einem einfachen Café wiedertraf. Wir hatten uns so viel zu erzählen, dass wir uns einige Wochen später erneut im Goodfish trafen und wir uns aufgrund eines Missverständnisses küssten. Daraufhin rastete Richard aus und beförderte die Hälfte der Band ins Krankenhaus, inklusive sich selbst.
Ich erinnerte mich an das Drama des Vaterschaftstests des neugeborenen Elias, welcher von Schneider auf die Welt geholt wurde und wie sie mir das Leben nach meinem Suizidversuch rettete.
Sie war immer für mich da und beschützte mich. Ich konnte sie nicht mehr beschützen. Ich hatte versagt.
Ich schluchzte laut und bekam keine Luft.
Scheisse, ich bekam keine Luft!
Es fühlte sich wie sterben an. Ich hatte es wohl auch nicht anders verdient.
Meine beste Freundin hatte nicht überlebt. Ich hätte es verhindern sollen, dass sie mit Schneider, Ulrike und Elias fuhr.
Elias.
„Was ist mit Elias?" schrie ich Till an und sprang auf.
„Rede mit mir!" forderte ich Till auf, welcher mich geschockt anblickte.
„Ich sagte doch bereits, dass es ihm gut geht." sagte er ruhig.
„Wo ist er?" wollte ich wissen.
Till stand auf und ließ Richard somit allein.
„Paul, ich weiß auch nicht mehr, als ich euch gesagt habe. Ulrike rief mich an, um es mir zu sagen."
Ein schmerzhaftes wimmern kam vom Boden.
„Wir hätten sie nicht gehen lassen dürfen."Die Wochen vergingen.
Ich war komplett alleine und der Kontakt zu Richard existierte nicht mehr.
Immer wenn ich einsam war, erwischte ich mich dabei, wie ich zum Handy griff und kurz davor war, Juliets Nummer zu wählen, um ihr zu erzählen, wie schlecht es mir ging. Flake war in dieser Zeit derjenige, der sich am meisten um mich kümmerte.
Er hielt in der Vergangenheit eine gewisse Distanz zu Juliet für angebracht und somit nahm ihr Tod ihn nicht so sehr mit, wie Richard oder Till.
Ich verstand es nicht.
Es war doch alles gut. Richard und ich näherten uns wieder an, doch kaum waren wir wieder auf unseren Glückspfad, warf eine höhere Macht uns Steine in den Weg.
Ich wollte Richard in den Arm nehmen, ihn nie wieder loslassen und seine Nähe und seine tröstenden Worte spüren. Es war die Sehnsucht zu Richard, die meine Stimmung endgültig zerschmettern ließ.
Doch die Wahrheit war: ich ertrug ihn als emotionales Wrack so lang nicht, wie ich selber zu kämpfen hatte.
Schneider lag noch lange Zeit nach dem Unfall im Krankenhaus.
Ihn hatte es nach Juliet am schlimmsten getroffen. Aber er lebte.
Er erzählte uns unter Tränen, dass an einer vielbefahrenen Kreuzung am Prenzlauer Berg ein Auto ungebremst in die Fahrerseite von Schneiders Mercedes bretterte. Schneider saß am Steuer und Juliet hinter ihm.
Neben Juliet brabbelte Elias fröhlich in dem Reborder von Schneiders jüngstem Sohn vor sich her.
Schneider erzählte uns, dass der Reborder eigentlich hinter dem Fahrersitz eingebaut war, jedoch rastete der Kindersitz nicht richtig in das Isofix-System des Autos ein, weswegen Schneider sich kurzerhand dazu entschied, den Reboarder auf der anderen Seite einzubauen. Dies rettete Elias das Leben und war Juliets Todesurteil.
Der Wagen wurde mehrere Meter weggeschleudert und kam schließlich in einer Hecke zum stehen.
Juliet war auf der Stelle tot. Ihr konnte nicht mehr geholfen werden.
Schneider war nicht mehr dazu in der Lage, das Auto eigenständig zu verlassen. Er hatte ein Schädel-Hirn-Trauma, den rechten Oberarn gebrochen sowie einen Splitterbruch im linken Arm. Zudem hatte er mehrere Einblutungen und Rippenbrüche. Die Sorge, dass er eine Hirnblutung erlitt, war groß. Ulrike hatte einige Prellungen, jedoch juckte sie das nicht im geringsten, als sie voller Adrenalin das Auto verließ und sich selbst über den Zustand von Elias überzeugte. Bis auf einen gewaltigen Schock, den Elias davontrug, schützte der Kindersitz ihn vor zahlreichen Verletzungen.Er verblieb einige Tage im Krankenhaus, ehe er in die Obhut des Jugendamtes kam, da Oday nicht als eingetragener Vater fungierte.
Er hatte die Vaterschaft damals nicht anerkannt.
Ob er sich um das Sorgerecht für Elias bemühte, wussten wir nicht, aber es schmerzte unheimlich, Elias wahrscheinlich nie wieder sehen zu dürfen, weil kein Grad der Verwandtschaft zu ihm existierte.
Ich hatte nicht nur Juliet verloren, sondern auch Elias, meinen Sonnenschein.
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Paulchard - Mein Herz brennt!
Fanfiction„Eine kurze Rückversicherung. Es war okay. Unsere Gesichter kamen aufeinander zu. Ich spürte einen kurzen Windstoß seines Atems, bevor seine Lippen meine berührten. Ein Blitzschlag durchfuhr mich. Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig. Meine Magengeg...