Verzweiflung

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"Bitte Paul." verzweifelt suche ich in seinen blauen Augen nach Halt. Doch stattdessen wühlen sie die Erinnerungen nur immer mehr auf. Denn seine Augen, sie sehen genauso aus wie die von Paulus. Wirklich, bis auf jedes noch so kleines Detail. Aber wie kann das nur möglich sein? So viele Kilometer liegen zwischen ihnen. So verschiedene Welten, doch so gleiche Augen.
"Sila, was ist los." Die Stimme ist gefüllt mit Unsicherheit und Verwirrung. Was wiederum  wieder mein Herz beben und meine Hände zittern lässt. " Ich ertrag das nicht mehr..." zwinge ich die Worte mit stockenden Atem über meine Lippen. " Es will einfach nicht in meinen Kopf gehen." " Aber Sila, was meinst du?" Seine Unsicherheit erreicht mich durch seine Stimme und löst in mir einen Sturm von Gefühlen aus.
"ALLES. EINFACH ALLES... WIE? WIE KONNTE MEIN LEBEN SO WERDEN? WIE KONNTE ALL MEINE FREUNDE STERBEN? WIE KONNTE MICH JEDER BELÜGEN, SELBST DIEJENIEGEN DIE ICH FÜR FREUNDE ODER FAMILIE HIELT? WIE Paul? WIE geht das? Ich verstehe es nicht! Wie kann ich mein Herz daran hindern sich so anzufühlen? Ich möchte diese Gedanken nicht haben. Diese Fragen wieso es so ist und die Hoffnung das alles so werden könnte wie früher. Die Hoffnung, dass das alles nur ein verdammt realistischer Albtraum ist." Ich halte inne. "Warum kann das nicht einfach nur ein Albtraum sein aus dem ich endlich wieder aufwachen kann." flüstere ich mit erstickender Stimme. Und da merke ich auf einmal wie sich Arme um mich schließen, mich zu sich ran ziehen und eine Hand beginnt beruhigend über meinen Rücken zu streichen. Ich schließe meine Augen todund lasse meinen Tränen freien lauf. Es tat so gut, so unendlich gut, umarmt zu werden. Es ist genau das was ich in diesem Moment brauch. Was ich eigentlich immer brauche. " Alles wird gut." Spricht er die wohl süßeste Lüge aus. Er weiß genauso gut wie ich, das nichts gut werden kann. Doch alleine diesen Satz zu hören bringt mir ein wenig mehr Kraft und Lebenswille. So erlaube ich mir selbst einmal meine Tränen zu weinen. Paul erträgt es still, streicht mir nur langsam über meinen Kopf und lässt mich nicht los. Nur erinnert er mich so leider an Paulus, was mein Herz in tausend Stücke zu reißen scheint und mir nur noch erlaubt schnappen nach Luft zu suchen. "Alles wird gut." flüstert Paul erneut. Doch seine Stimme ist gefüllt mit Trauer und Schmerz. Auf einmal merke ich wie auch sein Körper sich entspannt und sein Atem immer stockender wird. "A-Alles... Wird gut-t." seine Brust bebt, kalte Tränen erreichen meine Haut. Er weint, er weint mit mir. Wir weinen, mit und für einander. Zusammen, er und ich, zittern wir wegen des Schmerzes in unseren Körpern, der sich von unseren Erinnerungen ernährt und immer weiter wächst. Sekunde für Sekunde. Versuch für Versuch, alles was uns verletzte zu vergessen. Je mehr wir uns gegen das alles währen, so mehr zerfrisst es uns. So lassen wir nun einmal los. Um die schönen Erinnerungen zu genießen welche uns so verdorben wurden. Damit wir uns an die Gesichter erinnern können, welche von allem Leben verlassen wurden.  Dafür fallen uns aber auch alle Lügen, Schläge, Verluste, Schmerzen und die Tatsachen wieder ein. Und alles was uns daran hindert zu Boden zu sinken und doch aufzugeben sie die Arme die sich um uns schließen. So lange bis unsere Lungen wieder Luft behalten können und unsere Augen wieder Staudämme bauen. So lange halten wir uns. Nicht einer lässt vorher los.

"Sila." ein Zittern geht durch Pauls Körper, doch sonst ist sein Körper wieder ruhig. Die Mauern um sein Herz hatte er wieder fertig gebaut. Auch ich lege den letzten Stein, lasse ihn los und gucke kalt in seine Augen. "Es tut mir leid." seine Stimme war nun fast so eisig, dass man schon fast sein Spiegelbild hätte erkennen können. "Was meinst du?" spiegle ich so meine Stimme wieder, in seinem eisigen Ton. "Paulus, er ist mein Bruder.  Hätte ich ihn mitgenommen wäre er sicherlich noch am Leben." es passiert. Gerade jetzt. Ich rutsche auf dem Eis seiner Stimme aus und mein Herz gleich mit. " Bitte was?" frage ich verwirrt nach, obwohl ich sehr wohl verstanden habe was er gerade gesagt hat. "Als damals der dritte von uns starb tauchte eine Sicherheitslücke auf und so konnte ich fliehen. Doch da hatte ich Paulus die Schuld an seinem Tod gegeben, ich weiß auch nicht wie ich darauf kam, doch irgendwie hab ich ihn deswegen ohne ein weiteres Wort zurück gelassen. Ich weiß es war dumm, fies, bescheuert und herzlos. Doch ich war verdammt nochmal erst sieben und hatte keine Ahnung was ich ihm dort antat." hastig rennen die Worte über seine Lippen. "Sila, sei bitte nicht sauer. Paulus ist tot, ich kann nichts mehr daran ändern, selbst wenn ich wollte." Sein flehender Blick erreicht mich, doch seine neutrale Stimme legt in mir eine Wut, die sich in mir wie ein Feuer ausbreitet und mich innerlich zerfrisst. "Es ist wie es ist. Ich kann wirklich nichts mehr daran ändern." Bitte was? Hat er das gerade wirklich... das kann doch nicht sein ernst sein. WIE kann er in so einer Situation so etwas sagen? Wow, einfach nur wow. "Jetzt guck nicht so." der Ton seiner Stimme wird sanft, doch genau das bringt meine Wut zum explodieren. So hebt sich meine Faust und erfasst bevor ich merke was passiert Pauls Gesicht. " HALT ENDLICH DEIN VERDAMMTES MAUL."  schreie ich aus aller Kraft den Jungen auf dem Boden vor mich an, als in meinem Kopf endlich ankommt was er mir da gerade mitgeteilt hat. "WIE KOMMT ES DAS PAULUS SEIN LEBEN DRAUßEN LASSEN MUSSTE WÄHREND DU HIER FRIEDLICH MIT VERWÖHNTEN KINDERN SPIELST? ICH MEINE IST DIR PAULUS SO EGAL? BESSER GESAGT WAR ER ES?" schreie ich die Gestalt an, die sich nicht zu bewegen scheint. Ich ergreife den Kragen. " Sieht mich an, du herzloses Monster."  Meine andere Hand ergreift sein Kiefer und ich zieh sein Gesicht zu mir. Das eine Auge ist jetzt schon dabei anzuschwellen und Kratzer verzieren das ganze Gesicht. ""Ich wollte nicht das es so kommt." stöhnt die Stimme leise. "Erzähle keine Scheiße. Du wusstest wo er war. DU WUSSTEST WIE SEIN SCHICKSAL AUSSAH UND DOCH HAST DU NICHTS GETAN UND DANN KOMMT NUR EIN "ES IST WIE ES IST"?!" mein Zischen wird zu einem wuterfüllten Brüllen, welches Paul zusammenzucken lässt. Mit meinen vor Wut triefenden Augen  durchbohre seinen Blick. Welchen er nach unten senkt, und mir so die Antwort gibt, die ich nicht kriegen wollte. "Wage es nicht noch einmal seinen Namen zu sagen. HAST DU MICH VERSTANDEN?!" die Wut in mir vernebelt alles. Die Frage, wie er das nur tun konnte, rennt verzweifelt, nichts sehend umher und mein Verstand schmeißt sich, fertig mit allem, Hals über Kopf aus meinem Bewusstsein raus.
"Und wage es nicht mir noch einmal in die Augen zu sehen." sind die letzten Worte die ich zische, bevor ich meine Hand vom Kragen lösen und sein ganzen Gesicht ergreife. Die andere Hand lässt ihn los und ich packe sein Gesicht fester an. Ein leiser, tiefer Schmerzensschrei entweicht Paul. Doch ich hole nur aus.
"SILA, LASS IHN LOS!" lässt mich eine Stimme inne halten. Ich sehe hoch, doch schon sehe ich eine Faust nun kurz vor meinem Gesicht. Sofort drehe ich mich schnell zur Seite, dabei löst sich meine Hand von Pauls Gesicht. Nur ein Krachen und erneut die Frauenstimme, die seinen Namen ruft erreicht meine Ohren. Doch ich sehe nur den Besitzer der Faust an. Constantin von Näster stand mit matten, roten Augen vor mir. Jeder Muskels meines Körpers spannt sich an. "Sila, beruhige dich." umhüllt mich seine ruhige Stimme. Doch der Nebel in meinem Kopf fängt Feuer und selbst der letzte klare Gedanke verschwindet. So gehen meine Beine etwas auseinander und meine Knie beugen sich leicht. Ich hebe meine Fäuste und richte mich vollkommen auf den Mann vor mir. Ein letztes Seufzen verlässt die alten Lippen bevor die kräftigen Unterarme des alten Mannes meinen Side Kick stoppen, wobei ein Krachen ertönt. Doch befor er zum Angriff über gehen kann, setze ich meinen Fuß so kurz vor ihm ab und komme schwungvoll zu ihm und stoße geradewegs nach vorne mit meiner Faust, mit dem Ziel den Punkt hinter seinem Rücken zu  erreichen, durch ihn durch zu schlagen. Doch der alte Mann ist zu schnell für mich und ich spüre nur Sachte seine Hand an meinem Arm entlang streifen. Im nächsten Moment steht er neben mir und ein stechender Schmerz zuckt durch meinen Körper. Spannung baut sich an meinem Kragen auf als ich zurück weichen möchte und ich halte inne.  " Sila beruhige dich." raunt die Männerstimme erneut. Doch mir reicht es, ich ziehe mich ruckartig aus seinem Griff und das Geräusch reißendes Stoffes erklingt. Doch auch in meinem Nacken lässt ein stechender Schmerz seine Spuren. Aus Reflex sehe ich auf und fasse erschrocken an meinen Hals. Nichts. Keine Kette, nur ein zerrissener Kragen. Suchend wandert mein Blick über den Boden und bleibt an etwas schimmernden Hängen und meine Augen weiten sich. Bei dem Anblick der Kette verkrampft sich alles in mir und meine Hand an meinem Hals ballt sich zur Faust. Auf einmal schallt das Lachen meiner Familie in meinen Ohren wieder. "So Mädels, jetzt aber ab ins Bett." erinnere ich mich wie mein Vater noch lachend, Nama, Lily und mich ins Bett schickte. "Ihr habt morgen Schule." hatte er damals versucht streng noch hinzugefügt. Kichernd waren wir in meinem Zimmer verschwunden und hatten es uns in kürzester Zeit unter meiner Decke gemütlich gemacht. "Du Sila, versprich uns das es immer so bleibt." hatte Lily leise geflüstert während sie sich an mich gekuschelt hatte. "Klar ihr beiden. Nichts wird uns trennen. Das verspreche ich." Ich versprach es. Ich versprach ihnen zu bleiben. Verdammt. Ich bin kein Stück besser als Paul. Nicht ein bisschen. Ich habe sie genauso alleine gelassen, sie im Stich gelassen...
"Verschwindet." knurre ich die Gestalten an, die in meine Augenwinkel treten. "Sila..." erkenne ich nun die zaghafte, weibliche Stimme, Alina Zondages Stimme. "Ich sagte verschwindet." zische ich erneut. "Bitte, höre doch..." "VERSCHWINDET ENDLICH." schreie ich ihr dazwischen. Und mein verletzter Blick trifft auf ihre kugelrunde, grüne Augen. Doch sie bewegt sich nicht. Den regungslosen Paul im Arm tragend und Constantin neben sich, steht sie einfach da. Ihre fragenden Augen machen mir ihre Gegenwart unerträglich. So zwingen sie mich gerade zu , selbst die Flucht aus diesem Raum zu ergreifen."Ach lasst mich doch einfach in Ruhe." zische ich voller Wut auf ich selbst und setze mich in Bewegung. Bewusst laufe ich an der Kette vorbei und gehe noch beim Laufen leicht in die Knie und kriege sie gerade so mit meinen Fingerspitzen zu fassen. Dann eile ich nur so schnell ich kann aus dem Raum,raus ins freie wo meine Beine beginnen immer schneller zu werden. Schneller und schneller bis sich mich schnell an den Häusern vorbei durch die Straßen tragen. Denn erneut hatte ich für mich selbst gelernt wie gefährlich es ist Gefühle zuzulassen. Das wäre nämlich nie passiert, wäre mein Herz kälter gewesen. So schwöre ich mir heimlich in Gedanken, selbst die kleinsten Gefühle zu vergraben. So flüchte ich durch das sonnige Dorf, unwissend wohin mich meine Beine tragen. Doch wissend, dass mir alles recht ist soweit es weit weg von den Anderen  ist.

Sila KleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt