42.Kapitel: Die Liebe

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Ninas Blick heftete auf Jan, dessen Hände nun sein Gesicht verhüllten. Seine Haare waren ganz zerzaust und schienen in alle Himmelsrichtungen abzustehen. Sein Anblick brach Nina das Herz, welches in letzten Monaten so sehr gelitten hatte, jedoch stand nichts davon in dem Vergleich zu dem, was sie jetzt fühlte. Zu gerne hätte sie sich einfach neben ihn gesetzt und ihn in den Arm genommen, immer gut zu gesprochen, doch stattdessen stand sie einfach nur stumm und regungslos da. Alle die Gefühle die in ihr zu brodeln begannen und aufkochten, verwirrten und überforderten sie sie gerade zu sehr. Sie fühlte Freude Jan zu sehen und Schmerz ihn so zu sehen. Sie fühlte sich hilflos, da sie nicht wusste was sie tun sollte und doch wusste sie es ganz genau: Sie wollte ihn bei sich haben. 

Sie konnte sein Seufzen wahrnehmen als er seinen Blick hob und gerade Anstalten machte aufzustehen. Er fror allerdings in seiner Bewegung ein, als er Nina erblickte. Obwohl es stockdunkel war und das einzige Licht von einigen Straßenlaternen kam, schien sie das Funkeln seiner Augen einzufangen. Und in dem Moment wurde ihr klar, dass sie niemals über ihn hinwegkommen würde, weil sie es nicht konnte. Und sie wollte es nicht. Aber sie musste.

Jans Mund öffnete sich leicht, um etwas zu sagen, aber kein einziges Wort verließ seinen Mund. Stattdessen sahen sahen sich die beiden einfach nur schweigend an, während beider Gehirne ratterten und versuchten irgendeine Lösung für diese Situation zu finden. Überraschenderweise war es Nina, die das erste Wort aussprach, was ein einfach es "Hi" war. Jan musste hörbar schlucken, wahrscheinlich um einen Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, loszuwerden. "Hi", stieß er unglaublich leise aus. Es war nicht mehr als ein Wispern und doch brachte es Nina dazu innerlich zu erschaudern. Sie bemerkte, wie sehr sie es vermisst hatte seine Stimme zu hören und sie würde so viel dafür geben ihn einfach nur noch die ganze Zeit reden zu hören. "Ehrm, gefällt dir die Feier nicht?", fragte Nina und wunderte sich selbst woher ihr plötzlicher Mut rührte, sie war sich allerdings sicher, dass es die Verzweiflung war, die ihr diese Überwindung gab. "Nein, nein, es ist toll... nur, keine Ahnung, ich brauchte frische Luft", erklärte er sichtlich aufgewühlt. Er versuchte Nina mit irgendeiner Ausrede, ja einer Lüge, abzuspeisen, ohne sich dabei bewusst zu sein, wem er gerade versuchte etwas vorzumachen. Augenblicklich verteufelte er sich dafür, dass sein Mund schneller handelte als sein Gehirn und er einen Funken Enttäuschung in Ninas Augen erkennen konnte. Der Rest ihrer Erscheinung verbarg jedoch jegliche Enttäuschung. Nun war es an ihr, sich zu fragen, wem sie da etwas vormachte.

"Ach so", stieß sie leise aus. Ein unangenehmes Schweigen hing nun in der Luft und weder Nina noch Jan fühlte sich wirklich wohl. Nachdem die merkwürdige Stille einige unerträgliche Minuten anhielt, schien es als legte sich ein Schalter in Ninas Innerem um. Als schaltete sich die unsichtbare Kraft aus, die Nina davon abgehalten hatte irgendeine Bewegung zu tun.  Sie taumelte einige unsichere Schritte auf ihn zu, bevor sie ihre Arme um seinen Nacken legte und ihn in eine Umarmung zog. Es brauchte nicht viel Überzeugungskraft, dass Jan diese erwiderte, denn sofort schlangen sich seine Arme um Ninas Mitte und zogen sie näher. Beide, sowohl Jan als auch Nina, hatten gelitten. Unter der Trennung vom jeweils anderen. Und nun, da sie sich beide wieder in den Armen liegen konnten, machte sich eine erleichternde Freiheit in beiden breit. Als hätte sich all das gelöst, was sie zuvor runter gezogen hatte. 

Immer noch schweigend, jedoch um tausende Gedanken leichter, genoss Nina die Nähe Jans. So lange hatte sie ohne ihn klar kommen müssen und hatte sich eigentlich schon damit abgefunden, dass das zwischen den beiden aus war, doch jetzt, wo sie ihn wieder sah, war sie wie in seinem Bann gefangen. Niemals würde sie diesen wundervollen Menschen gehen lassen können. Von seinen manchmal grausig schlechten Witzen, die sie trotzdem zum Lachen bringen würden, könnte sie niemals genug kriegen, genau so wie von dem Rest. Sie könnte Stunden damit zutun das aufzuzählen, was sie so sehr an ihm liebte, sowohl seine wunderbaren Eigenschaften, als auch seine Schlechten. All das machte ihm zu dem was er war. Und er war die Person, die in Nina so unergründliche Gefühle hervorrief. Gefühle, die so rein, so ehrlich, so aufrichtig und- so unergründlich waren, dass Nina sich wie ein besserer Mensch fühlte. Aber auch Gefühle, die ebenso nervend, so verletzend, so falsch und- so unergründlich waren, dass Nina sich in Momenten so schwach und hilflos fühlte, dass sie am Liebsten alles aufgegeben hätte. 

Liebe war für Nina etwas, von dem sie dachte, dass sie es niemals wirklich verstehen würde. Etwas, das sie so sehr einschüchterte, dass sie sich gar nicht herantraute. Doch Jan hatte ihr gezeigt, wie wunderbar sich Liebe anfühlen konnte. Auch wenn es sie manchmal nervte, dass sie pausenlos an ihn denken musste und auch wenn es sie manchmal verletzte, was Jan tat, oder tun könnte und auch wenn es sich manchmal so falsch und schlecht anfühlte, so konnte ein noch so kleiner Moment, sei es eine zarte Berührung, eine kleine liebevolle Geste oder gar ein munteres, verstehendes Lächeln von Jan, all diese Gefühle und schlechten Gedanken einfach wegschieben. Es würde nur sie und ihn geben und das Band zwischen ihnen, das sie so stark verband. Die Liebe. 

Auch wenn sich Nina in Jans Armen fühlte als könne sie fliegen, als könne ihr nichts etwas anhaben und als könne sie allem trotzen, so holte sie doch die Realität rasch und schmerzhaft wieder ein, mit einer Brutalität, die Nina das Herz aus dem Brustkorb riss und darauf herumtrampelte. Ja, die Realität hatte für die beiden andere Pläne. Ninas Mutter hatte ihr eine Ausbildungsstelle  in einem Kindergarten verschaffen können, einem Kindergarten hier in Stadthagen. Diese Ausbildungsstelle, auch wenn Nina noch so glücklich darüber war endlich zu wissen, wie ihre Zukunft aussehen würde, hielt sie hier. Sie hätte niemals die Möglichkeit, wenn sie nur gewollte hätte, Jan zu folgen. 

Und so sehr diese Gedanken einen tiefen Schmerz in ihr hervorriefen, so sehr machte sie auch ein leichtes Gefühl der Freude in ihr breit. Der rational denkende Teil ihre Gehirns wusste nämlich, dass dies der einzig richtige Weg war. Sie würde sonst niemals lernen los zu lassen und so sehr sie sich auch an Jan festklammern würde, umso mehr würde sie in seine Abhängigkeit rutschen. Ihr kam es in ihrem tiefsten Unterbewusstsein schon eine Weile komisch vor, dass sie so viel für eine einzige Person tun würde. Sie erschrak sich vor sich selbst und der Leidenschaft mit der sie Jan anpries. Ihr gefiel es eigentlich ganz und gar nicht so wenig Kontrolle über sich selbst und ihre Gefühle zu haben. Jan trieb sie in den Wahnsinn, so sehr hatte sie sich in ihn verknallt, nein, so sehr liebte sie ihn. Ihre Gefühle machten es ihr so oft so schwer normal zu denken, normal zu handeln, normal zu leben. Und wenn Jan von der Bildfläche verschwinden würde, würde er all diese Gefühle, sowohl die Schlechten, als auch die Guten, mit sich nehmen. Er würde ein Chaos zurücklassen, das Nina wieder in Ordnung bringen müsste. Aber ihr war klar, dass sie das schaffen würde. Beziehungsweise könnte, wenn sie denn wollte. Nur leider fiel es ihr so schwer endlich los zu lassen. Allein die Gedanken daran, dass Jan so viele Kilometer weit weg war und, wer weiß, vielleicht sogar eine neue Freundin finden würde, machten Nina ganz paranoid. Und sie verurteilte sich selber dafür, aber das war nun mal, das, was er aus ihr machte. 

"Ich hab dich vermisst", flüsterte sie so leise, dass sie hoffte, er würde es nicht hören, doch wie als Bestätigung drückte er sie enger an sich. Fast verängstigt davor, dass sie jemals wieder aus seinen Armen entschwinden könnte. "Du siehst wundervoll aus in dem Kleid", hauchte er nah an ihrem Ohr, sodass sie seinen warmen Atem gegen ihre Haut wehen spürte. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus und ihre Wangen wurden auf einmal unglaublich heiß. Ihr war die Röte ins Gesicht geschossen, als er diese Worte aussprach. Allein diese sieben Worte hatten gereicht, dass sie jeden Zweifel an der Wahl ihres Kleides hatte ablegen können. Sein Gefallen daran wäre Grund genug dazu, diese Kleid zu tragen. Und auch wenn in diesen Minuten scheinbar Pures Glück durch ihre Adern schoss, so wurde es mit einem Hauch Bitterkeit begleitet. Wieder war sie so abhängig von ihm, von dem was er sagte, von seiner Meinung, dass sie Angst bekam, sie könne ohne ihn nicht mehr leben. All diese Gedanken waren aber schnell zur Seite geschoben. Zu aufregend und schön war das, was hier gerade passierte. 

"Danke", sagte sie leise. Keiner von beiden traute sich die Lautstärke ihrer Stimmen zu heben. Beide sahen sie diesen Moment als so zierlich, so zerbrechlich an, dass sie ihn nur mir Vorsicht genossen. "D-der Anzug steht dir aber auch super!", stieß sie fast schon schwärmend aus und verfluchte sich augenblicklich selbst für den Klang, der in ihrer Stimme lag. Sie spürte ein kichern durch seinen Brustkorb vibrieren und wurde jeden Augenblick roter im Gesicht. Umso glücklicher war sie darüber, dass sie ihr Gesicht an seiner Schulter versteckte, sodass er dies nicht sehen konnte. "Danke", raunte er ernst, keinen Anflug von dem vorherigen Kichern, was die Aufrichtigkeit seiner Worte mehr als deutlich machte und Nina auf der Stelle hätte dahin schmelzen lassen können. Jans Hände fuhren hinauf, sodass eine zwischen Ninas Schulterblättern ruhte und die andere sanft ihren Hinterkopf umfasste. Langsam, fast wie automatisch bewegte sie ihren Kopf nach hinten, bis ihre und Jans Wangen aneinander lagen und sie kurz inne hielt, dann aber in ihrer Bewegung fortfuhr und sich Ninas und Jans Lippen nach so langer Zeit endlich wieder näher kamen. Sie schwebten bloße Millimeter voneinander, sodass es nur den Hauch einer Bewegung benötigt hätte, um die Erlösung von seinen Lippen auf ihren, heraufzubeschwören.  



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