19.Kapitel: Offenbarungen

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[Sichtwechsel: Nina]

Hatte er das gerade wirklich gesagt? Er wollte mit Andre und Jan nach Hamburg? Man hörte ja viel, dass Leute im Suff irgendeinen Mist von sich geben. Das was Jan gerade gesagt hatte musste also irgendein besagter Mist sein, bitte! Wann hätte er mir das denn sonst erzählen sollen? Jan war ein ehrlicher Mensch, wenn es so wäre dann hätte er mir das schon längst gesagt.

Ich war zwar nicht so überzeugt von dieser These, wollte mir dadurch aber die Laune nicht verderben lassen. Leicht, und leider auch ein wenig aufgesetzt, lachend sah ich ihn an. Seine blauen Augen du funkelten in dem Licht das die Straßenlaternen auf die Umgebung warfen. Und wie so oft davor schon verlor ich mich in ihnen und alle Sorgen und Zweifel, die mich nur Bruchteile einer Sekunde zuvor gequält hatten, fielen von mir ab. Jan trat einen Schritt auf mich  zu und schloss mich wieder in seine warmen Arme. Auch ich schlang meine Arme um seinen warmen Körper, da es etwas kalt geworden war, beziehungsweise kälter als es sowieso schon war und mir seine Wärme einfach gut tat. Langsam lockerte sich die Umarmung und Jans Wange lag an meiner. Sein Gesicht streifte meines, bis er seine Stirn an meine lehnte. Sein Griff um mich löste sich und er nahm mein Gesicht vorsichtig in seine Hände. In Gegenteil zu dem Rest seines Körpers waren seine Hände relativ kühl, aber das störte mich in keinem Fall. Denn auch wenn sie kalt waren, riefen sie ein wohliges Gefühl in mir hervor, das ich niemals missen würde. Schon gar nicht wenn Jan der Auslöser dafür war.

Sanft legte er seine Lippen auf meine, da er die Spannung zwischen uns, die ins Unermessliche gespannt war scheinbar nicht mehr aushielt. Obwohl er schon sehr angeheitert war schien es der echte Jan zu sein, also nicht der der im Suff irgendeinen Müll redete.

Unsere Lippen schienen wie für einander geschaffen zu sein. Synchron bewegten sie sich. Das war so ein wunderschöner Moment, ich wollte ihn genießen, mit allen Sinnen. Doch langsam löste sich Jan und lächelte mich an. „Wir sollten rein gehen“, flüsterte er. Man hörte dass er versuchte das Lallen in seiner Stimme zu unterdrücken, irgendwie süß.

„Ich würd' noch ein bisschen hier draußen bleiben und etwas frische Luft schnappen. Du kannst ja schon mal vorgehen, ich komm' gleich nach“, erklärte ich in er nickte. Bevor er ging drückte ich ihm noch einen kurzen Kuss auf.

Mit einem tiefen Atemzug inhalierte ich die kalte Abendluft. Ich lief einige Schritte, einfach nur um den Kopf frei zu kriegen. Die Zweifel von vorhin hatten mich wieder eingeholt und beschäftigten mich nun mehr, als sie es vorhin taten. Ich blieb stehen und lehnte mich mit meinem Rücken an einer Hauswand an. Meinen Kopf in den Nacken legend schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete sah ich eine Gestalt auf mich zu kommen. Durch niedrige Beleuchtung konnte ich jedoch trotzdem feststellen, dass es Andre war.

„Na? Was hat dich nach hie Draußen verschlagen?“, fragte er und lehnte sich neben mich an die Wand. „Jan hat noch nach draußen geschleift, aber der is' schon wieder reingegangen“, antwortete ich und sah zu ihm. Er nickte. „Und was machst du so hier draußen?“, fragte ich und sah ihn abwartend an. „Ach, ich hab' grad“, fing er an ließ es dann aber doch bleiben. Seine Hand hatte auf einen Grünstreifen mit großen Büschen gezeigt und auch ohne, dass er etwas davon sagte, wusste ich, dass er eben in die Büsche gepinkelt hatte. Ich verzog theatralisch das Gesicht und wies ihn darauf hin, dass er das auch hätte weglassen können. Nun herrschte Schweigen. Die perfekte Gelegenheit in etwas zu fragen, was mir die letzten Minuten fast zur Hölle machten. „Sag' mal stimmt es, dass ihr nach Hamburg gehen wollt?“, fragte ich ihn mit etwas brüchiger Stimme, versuchte jedoch diese fest und bestimmt klingen zu lassen. Mein Blick lag schwer auch ihm. Als ob ich versuchen würde ihn mit meinem Blick zu manipulieren und dazu bringen zu wollen etwas zu sagen, das mich erfreuen wird.

„Hat Jan dir das etwa erzählt? Ja, es stimmt, krass oder?“

Krass? Ja für ihn vielleicht schon, aber sind sie sich denn sicher? Von YouTube kann man doch nicht Leben, geschweige denn eine Existenz in Hamburg finanzieren. Mich sollte es nicht weiter kümmern, da mir noch eine andere Frage auf der Zunge brannte. Es war total abwegig und hatte überhaupt keinen Zusammenhang mit dem, was wir Sekunden zuvor besprochen hatten. In gewisser Hinsicht zwar schon, aber das worauf ich hinaus wollte, war nicht in dem Sinn.

„Was sagen deine Eltern dazu?“, fragte ich gerade heraus, aber versuchte nicht so forsch zu klingen. Ich war nicht sehr oft mit Andre alleine, nur zwei, drei mal bis jetzt, aber an ein mal erinnere ich mich besonders gut. Damals als wir die Requisiten in seine Wohnung gebracht hatten und ich mich nach seinen Eltern erkundigt hatte, woraufhin er abgeblockt hatte. Es interessierte mich aber wirklich, was zwischen ihm und seinen Eltern vorgefallen war, damit er nicht so gut auf sie zu sprechen war.

Er seufzte. Und wendete sein Blick in die Dunkelheit. „Die interessiert das doch nicht mal!“ Genauso wie Jan schien er schon etwas beschwipst zu sein, sonst hätte er mir diese Information bestimmt vorenthalten. „Die haben genug mit ihren eigenen Problemen zu tun“, fuhr er fort. Wie gut ich das von meiner Mutter kannte. Jedoch würde meine Mutter niemals so desinteressiert an meiner Zukunft sein, deshalb fiel es mir ziemlich schwer mir das vorzustellen. „Ach, das ist bestimmt“, fing ich an, jedoch erstickte meine Stimme. Ich kannte weder ihn noch seine Familie gut genug um ihm irgendwelche Ratschläge oder so zu geben. Und schon bereute ich es den Satz eben überhaupt angefangen zu haben. „Was?“, fragte er und machte eine Pause. Ich konnte nicht eindeutig zuordnen, wie seine Stimme klang, aber die Reue stieg immer mehr und mehr in mir auf. „Du hast gut Reden, mit deiner ach so perfekten Familie“, sagte er in einem verachtenden Tonfall, aber ich konnte die Traurigkeit in seiner Stimme hören. „Perfekt nennst du das also? Meine Familie ist die reinste Baustelle“, sagte ich höhnisch lachend, obwohl das eigentlich nicht passte. Ich wollte mich nur irgendwie revanchieren und ihm etwas über meine Probleme sagen, da er mir das mit seiner Familie auch gestanden hatte. Doch dieses Lachen rief nur Schmerz in mir hervor. „Meine Familie ist nicht perfekt ganz und gar nicht“, flüsterte ich nun nur noch. Andre rückte ein wenig näher, als ich anfing zu erzählen. „Mein Vater hat uns sitzen lassen und kommt jetzt wieder angekrochen, das macht meine Mutter total fertig. Und mir geht das da auch nicht anders, es tut weh, ich erkenne meinen Vater nicht wieder. Ich sehe mich nicht mehr als seine Tochter und ich will auch ehrlich gesagt nicht mehr seine Tochter sein“, sprudelte es aus ihr heraus. Ich würde ja sagen, dass der Alkohol aus mir sprach, aber es war kein Alkohol im Spiel gewesen. Ich musste aufkommende Tränen unterdrücken, diese Worte rissen alte Wunden auf, wobei diese dann doch nicht so alt waren.

„Mein Vater ist Alkoholiker und hat meine Mutter, meine Geschwister und mich geschlagen. Als er meiner Mutter eine Rippe gebrochen hat ist sie mit meiner Schwester und meinem Bruder ausgezogen. Einmal im Suff hat er mich aus dem Haus geprügelt, seit dem hab ich nur in dem Heim gewohnt“, erzählte er mir, obwohl es ihm sichtlich schwer viel, aber er schien das Verlangen zu haben es mir zu erzählen.  

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