43.Kapitel: Ein letzter Tanz

132 10 5
                                    

Ninas Körper begann verrückt zu spielen. Ihr Herz raste und pumpte das Blut mit einer solchen Geschwindigkeit durch ihre Adern, dass sie förmlich spüren konnte, wie Adrenalin sich seinen weg durch ihre Gliedmaßen bahnte und ein angenehmes aufregendes, wenn auch zur gleichen Zeit ebenso komisches Kribbeln hinterließ. Ihre Gedanken schossen umher, konnten sich jedoch nicht ordnen. Zu viele Gefühle übermannten sie zu dem Zeitpunkt, sodass weder ihr Körper noch ihr Geist wirklich realisieren und verarbeiten konnte, was gerade geschah. Es war ein wahrhaftig magischer Moment. Umgeben von der Dunkelheit, gebrochen durch die Straßenlaternen, unter den Sternen, ja unter dem Mond, der romantisch-kitschig auf die beiden hinab schien. In jeder normalen Liebes-Schnulze würden sich die beiden jetzt küssen und all ihre Probleme vergessen. Alles würde gut werden, niemand würde leiden, und die Probleme würden schlussendlich sowieso auf irgendeine mysteriöse Weise gelöst werden. Wobei die Konflikte und besagte Probleme in solchen Filme ohnehin an Belanglosigkeit grenzten. Nina konnte solche Filme noch nie wirklich nachvollziehen. Dennoch hatte sie sie sich angeschaut, Selma zuliebe, die ein wahrer Fan davon war und scheinbar jeden dieser Filme kannte. Die Belastung, der Liebende ausgesetzt sind, ist nicht weiter als irgendetwas Greifbares, etwas, das man einfach aus dem Weg schaffen kann. Wenn der Typ zum Beispiel eine Freundin hat, dann serviert er sie ab, da er merkt, wie toll doch das andere Mädchen ist, und mit einem Wimpernschlag ist alles perfekt. Natürlich gibt es noch ein wenig Drama, um das ganze wenigstens etwas interessant zu gestalten, aber das war es dann auch schon. Aber was ist, wenn das Problem nichts wirklich irdisches ist? Wieso hatte Nina noch nie einen Liebesfilm mit dieser Thematik gesehen? Dann wäre sie jetzt nicht so furchtbar aufgeschmissen. Sie hielt dem Drang stand, sich einfach nach vorne zu lehnen und Jans Lippen auf ihren zu spüren. Keiner von ihnen tat auch nur den Hauch einer Bewegung. Beide waren wie eingefroren. Als hätte irgendeine höhere Macht denn Stopp-Knopf gedrückte und die Zeit angehalten.

Nina suchte ihre Stimme, aber die Angst, dass nur ein Winseln oder Krächzen zustande kommen würde, ließ sie schweigen. Bis sie es nicht mehr aushielt, die Spannung zwischen den beiden bis ins Unermessliche gespannt. Sie wollte dieser Situation entkommen, denn sie wusste, wenn sie sich küssen würden, würde Nina zurück in den Abgrund fallen. Sie würde wieder todunglücklich in ihrem Bett liegen, weinen und in Selbstmitleid baden. Sie würde in niemals mehr loslassen können. Sie würde einen Rückfall haben, von dem sie sich gewiss nicht mehr so schnell erholen würde. Und obwohl sowohl ihr Körper als auch ihr Verstand gerade verrückt spielten, waren diese Konsequenzen klar in ihrem Kopf. Sie war sich mit einer schmerzlichen Härte bewusst, dass dies die Wahrheit war. Dennoch wollte sie Jan ein letztes Mal um sich haben. Als wären die beiden einfach nur gute Freunde. Als wäre das alles niemals passiert. Sie wollten ausgelassen sein, ausgelassen mit Jan. Eben so wie gute Freunde es nun einmal sind. Ohne diese nervigen Gefühle.

"Willst du tanzen?", hauchte ihre Stimme fast tonlos. Aber aufgrund der Nähe verstand Jan jedes Wort. Zudem spürte er ihren Atmen auf seinen Lippen, was ihn gerade in den Wahnsinn trieb. Konnte sie ihn nicht einfach küssen? Ein letztes Mal, ohne irgendwelche Verpflichtungen. Einfach nur ein Kuss. Ein Kuss nachdem er sich schon so lange sehnte, obwohl ihm klar war, dass es dämlich war. Er wusste, dass es auch ihn aus der Bahn werfen würde, doch sein Verlangen war zu groß. Aber aus Angst Nina irgendwie zu verärgern, nickte er stumm. Wenn er jetzt anfangen würde zu reden, würde seine Stimme nur ein Winseln und Betteln sein. Er könnte ihr nichts vormachen. Und das wollte er auch nicht. Er wollte sie einfach nur küssen und halten, als wäre sie sein.

Gemeinsam, schweigend liefen sie auf die Halle zu. Nina war kein Mensch großer Reden, so genoss sie es manches Mal einfach nur von Schweigen umgeben zu sein, doch in dieser Situation und zudem noch in Jans Gegenwart brachte sie es um den Verstand. Jan machte schnellere und größere Schritte, nicht um vor Nina zu fliehen (oder vielleicht doch), sonder, um ihr die Tür zu öffnen und sie in die Hall zu geleiten. Aufgrund der hohen Dichte an Personen griff Nina nach Jans Hand, um nicht verloren zu gehen. Und vielleicht auch, weil sie das Gefühl seiner Hand um ihre geschlungen vermisst hatte. Wie selbstverständlich, und wie so viele Male davor schon, verschränken sich ihre Finger ineinander, mit einer Vertrautheit, die beiden eine Gänsehaut bereitete. Als sie einen menschenleeren Fleck gefunden hatten, stellte sich gegenüber von Nina und sah schwach lächeln zu ihr hinab, seine Hand immer noch ihre haltend. Er brachte ihre Hand zu seiner Brust, wo unter all den Lagen Stoff seiner Anzugs, sein Herz war. Die Andere legte er vorsichtig und in einer unendlich sanften Bewegung auf ihren Rücken. Wie automatisiert, und als ob sie das immer tun würden, legte sie ihre Hand auf seiner Schulter und ließ ihn führen. Erst jetzt viel ihr auf, dass um sie herum nur Pärchen waren, die tanzten. Kein Wunder, denn das Lied, das gerade gespielt wurde, war ein langsames, ruhiges Lied, das quasi dazu einlud mit einer geliebten Person zu tanzen und sich zu verlieren. Denn dies geschah gerade. Sie verlor sich in ihm, in seinen Augen, in seinen Handlungen, in seinen Berührungen, in allem. In ihren Augen war Jan so makellos, so rein, so unschuldig und so gequält, dass er eine Person wie Nina liebte.

Auch wenn Nina sich eigentlich schlecht fühlen wollte, ging es einfach nicht. Sie konnte sich nicht schlecht fühlen, weil Jan sie liebte und sie ihn verletzte. Es war als würde sie es endlich begreifen. Liebe ist bedingungslos. Ihre liebe zu Jan war bedingungslos. Und seine Liebe zu ihr war es ebenso. Sie konnte sich nicht schlecht fühlen, weil sich zugleich so gut anfühlte geliebt zu werden.
Ihr war gar nicht bewusst, dass ihre Augen angefangen hatte glasig zu werden, als sie in seine Augen blickte und sich gänzlich in ihren Gedanken verlor. "Nicht", flüsterte er und obwohl die Musik immer noch, obwohl leiser als vorher, laut war, sodass man eigentlich hätte schreien müssen, schien Nina das was er sagte zu verstehen. Als könnte sie aus ihm lesen, was er meinte. Diese Verbindung, die beide in diesem Moment spürten, war so stark und so bedingungslos, dass beide daran zweifelten jemals von dem jeweils anderen ablassen zu können. Sie wollten es ja gar nicht. Aber sie mussten es. Es führte kein Weg daran vorbei. Ihre Zukunft führte beide in andere Richtungen, also mussten sie Abschied nehmen, auf ungewisse Zeit. Ihnen war jedoch bewusst, dass ihr Leben weitergehen musst, dass sie wahrscheinlich neue Leute kennen lernen würden und sie über den anderen hinwegkommen mussten, ja hinwegkommen würden.

Nina kniff ihre Augen zusammen, um die Tränen aufzuhalten, was ihr ganz gut gelang, nur scheiterte sie daran, dass Zittern ihrer Unterlippe aufzuhalten. Und als Jan sie so sah zerbrach sein Herz in tausend kleine Scherben, sie sich in sein Innerstes bohrten und einen ziehenden Schmerz hinterließen. Auch in seinen Augen sammelten sich Tränen und er konnte ein schnappendes Winseln nach Luft nicht verhindern. Nachdem sie einige Momente stur ein und ausatmeten fanden sie sich schnell wieder. Der regelmäßige und nur schwach zu spürende Schlag von Jans Herz beruhigte sie. Und auch Jan beruhigte sich unter ihrer Berührung, als ihre Hand von seiner Schulter zu seinem Nacken glitte und dort sanft über seine Haut strich. Auch wenn all das, was heute geschah, stets von Schmerz begleitet wurde, war der Abend vollkommen; vollkommen in seiner Unvollkommenheit. Die Nähe, die Ehrlichkeit, die beide so unendlich stark spüren, obwohl sie nur ein paar Sätze ausgetauscht hatten, brachte beide dazu zu beben. Sie zweifelten an der Wahl für ihre Zukunft, auch wenn für beide sicher war, dass es so das beste sein würde. Nina schmerzte es an einen Abschied zu denken, doch wenn er das hier sein würde, dann sollte es so sein. Das Schicksal hatte einen anderen Plan für sie, und einen anderen für ihn. Es wird wohl das Beste sein. Hoffentlich.

Nach einigen Minuten, in denen sie sich in einer fließenden Bewegung, gefolgt auf die nächste, im Takt der Musik hin und her wiegten, stoppte das Lied. Es schien, als würde der komplette Raum Schweigen. Ein Moment in dem die Zeit stehen blieb. Es hatte wohl wieder eine höhere Kraft den Stopp-Knopf betätigt. Doch dieses Mal wog sich Nina in dem Wissen, dass dies das letzte Mal sein würde. Der letzte Moment mit Jan. Der letzte Moment, in dem sie die Magie, die er förmlich versprühte, genießen konnte. Plötzlich unendlich sicher und überzeugt von dem was sie tat, lehnte sie sich nach vorne, nicht etwas um ihn zu küssen, sonder um in sein Ohr zu flüstern. "Leb wohl, Jan", waren die Worte. Die Worte, die dazu bestimmt waren die letzten zu sein, die sie mit ihm wechselte. Einen Moment hielt sie inne, sog seinen Duft ein und genoss ein letztes Mal seine Gegenwart, bevor sie ihm einen sanften Kuss auf die Wange gab. "Leb wohl, Nina", sprach nun auch er aus und drückte ein letztes Mal ihre Hand, bevor er seinen Griff löste und sie ihre Hand zurückzog. Auch seine andere Hand löste sich von ihrem Rücken sodass sie sich in keinem Punkt mehr berührten. Sie schenkte ihm einen letzten Blick, bevor sie sich umdrehte und ging. Auch wenn sie das Verlangen hatte sich umzudrehen und zu schauen, ob er immer noch da stand, tat sie nichts als sich von ihm wegzubewegen, ohne einen einzigen Blick zurück zu werfen. Am Rand konnte Selma sehen, die gerade Julian küsste und unwillkürlich huschte ein Lächeln auf ihre Lippen. Ein ehrliches Lächeln, weil sie es akzeptiert hatte. Auch wenn es immer noch schmerzte, hatte sie es akzeptiert. Sie musste sich weiterentwickeln. Sie musste ihr Leben leben und voller Hoffnung in die Zukunft blicken. Denn vielleicht hatte Schicksal noch etwas vor. Mittlerweile liefen ihr die Tränen in Strömen das Gesicht herunter. Sie würde weitermachen müssen. Stark werden müssen. Ohne Jan.

Sie musste ihn vergessen.

- Ende -


Hallo ihr! Dies ist, wie ihr offensichtlich mitbekommen haben dürftet das letzte Kapitel dieser Story! Ich möchte auch gar nicht so viel herum schwafeln, weil mir sowas einfach nicht liegt. Aber nichtsdestotrotz möchte ich mich bei jedem einzelnen von euch bedanken! Bei jedem einzelnen der diese Geschichte auch nur angeklickt hat! Jedem, der gevotet hat! Und jedem, der sich die Zeit dazu genommen hat auch noch einen Kommentar zu verfassen! Einfach nur Danke!
Ich möchte hier keine falschen Hoffnungen erwecken, aber es wir eventuell eine Fortsetzung geben. Wenn ich Zeit und Ideen dafür finde. Aber falls nicht, dann würde ich mal sagen, tschau! Ich wünsche euch nun zum letzten Mal hier einen wunderschönen Tag! Auf dass wir uns hoffentlich irgendwann wieder sehen. ^-^

Alte ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt