31.Kapitel: Versuchung

342 27 6
                                    

Dass ihr schon unzählige die Wangen hinunter gelaufen waren, bemerkte Nina erst, als sie die überraschten Blicke der Frau am Schalter im Bahnhof wahrnahm. Zu ihrem eigenen Bedauern waren alle Kartenautomaten um diese Uhrzeit außer Betrieb, weswegen sie sich an den Schalter wenden musste. Eigentlich hätte sie das genaue Gegenteil erwartet, also das so spät abends eben nur noch die Automaten zur Verfügung standen, aber da hatte sie sich geirrt. Die Frau hinter der Glasscheibe am Schalter schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, als ihr diese das Ticket aushändigte. Nina schenkte ihr nur ein kleines, aber aufrichtiges Lächeln. So schnell sie jedoch der Scheibe den Rücken zugekehrt hatte verblasste dies aber wieder.

Niemand hatte ihr gesagt, dass es so schwer sein wird! Niemand hatte sie gewarnt, vor dieser Frau. Was fand ihr Vater nur an ihr? Sie war falsch, ein unglaublich falscher Mensch, mit wahrscheinlich hunderten Facetten unter denen man ihre wahre Gestalt gar nicht erkannte. Und zudem war sie falsch für ihren Vater. Ihr Vater hatte wahrhaftig etwas Besseres verdient. Dass er das nicht sah, leuchtet ihr nicht ein. Wie konnte man nur so blind sein?

Wenn man verliebt ist.

Hallte es in ihrem Kopf. Ja, wenn man verliebt ist, dann würde man ziemlich dummes Zeug für den anderen machen. Aber blendete das wirklich so sehr?
Wieder dachte sie an Jan. Vielleicht hatte auch er ganz offensichtliche „Fehler" und Nina konnte sie nur nicht sehen, weil sie ihn so sehr liebte. Wieder stellte sich ihr die Frage, was ihn den so besonders machte. Was unterscheidet ihn von all den anderen Menschen, die täglich Ninas Weg kreuzten? War es die Tatsache, dass sie schon immer eine enge Bindung mit ihm hatte, schon als sie noch kleine pubertierende Zwerge waren?

Ja, sie kannte Jan schon so lange, und hatte auch schon so lange Gefühle für ihn. Lag es daran? War Jan gar nicht so besonders? Doch! Und wie er es war. Er war ein besonderer Mensch. Seine meistens Gute Laune steckte einen stets an. Und seine lustige Art gefiel so gut wie jedem, was nicht selbstverständlich war, immerhin gab es genug Leute, die mit schlechten Witzen versuchen lustig zu sein, Jan gehörte definitiv nicht dazu. Er war wirklich lustig. Deswegen war sein Berufswunsch eigentlich sogar klug. Wenn da nur das Wörtchen „eigentlich" nicht wäre. Das wirft nämlich alles über den Haufen, denn eigentlich war es sehr leichtsinnig so auf gut Glück in eine komplett neue Stadt zu ziehen und darauf zu hoffen mit Youtube durchzustarten und eigentlich war es auch ziemlich leichtsinnig das ohne Rückhalt zu haben, wie etwa eine Ausbildung, oder grob gesagt einfach einen Plan B und eigentlich war es auch ziemlich rücksichtslos seine Freundin dafür zurückzulassen... Nein! Oder ja, doch, das war es. Aber es war auch richtig so! Das hatte sie schon feststellen dürfen, so oft, wie sie darüber nachdachte. Auch wenn sich, so hart ausgedrückt, doch ein wenig falsch anfühlte, war das sicher nur der Schmerz und der Teil in ihr, der das nicht wahrhaben wollte.

Die Wartezeit auf den nächsten Zug hielt sich in Maßen und war für Nina so recht gut zu ertragen. Als der Zug dann endlich eintrudelte ließ sie sich auf einen abgelegen Platz in der Umgebung, wo die wenigsten Menschen waren. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben.

Sie schloss ihre Augen und atmete einige Male tief durch. Währenddessen stahlen sich erneut einige Tränen aus ihren Augenwinkeln, aber aufhalten wollte sie diese nicht. Irgendwann musste sie das alles ja schließlich rauslassen, und besser früher, als später.

So fuhr sie etwas mehr als drei Stunden mit dem Zug durch die Dunkelheit. Zu ihrem Glück schaffte sie es ein kleines Nickerchen zu machen und wirklich abzuschalten. Wenn die Durchsage, dass der Zug am Hauptbahnhof Hannover angelangt wäre, nicht so laut gewesen wäre, so hätte Nina wahrscheinlich einfach weitergeschlafen und gar nicht gemerkt, dass sie bereits in Hannover war. Sie stand, immer noch etwas im Halbschlaf, auf und taumelte durch den Bahnhof zum Ausgang. Ihr Weg führte sie direkt zur Bushaltestelle. Ein wenig Angst hatte sie schon, da es schon stockdüster war und sie ein wenig Bammel hatte, um die Uhrzeit durch die Straßen von Hannover zu geistern. Doch die Gewissheit, dass sie bald zu Hause ankommen würde machte ihr Mut. So wartete sie gerade einmal drei Minuten auf den Nightliner, der sie innerhalb von knapp zwanzig Minuten nach Statthagen fuhr. Da die Haltstelle eher außerhalb lag musste Nina ein Stück laufen, um ins Zentrum des Dorfes zu gelangen. Auf ihrem Weg kam sie an einer Tankstelle vorbei von der einige Meter entfernt an einer Mauer eine große dunkle Gestalt stand. Als sie diese erblickte rutschte ihr Herz wohl in ihre Hose, so sehr fürchtete sie sich. „Nina?", fragte die Gestalt überrascht, als Nina versuchte sich unbemerkt an ihr vorbeizustehlen. Man musst nicht besonders viel Menschenkenntnis besitzen, um zu merken, dass diese Person ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte, denn das Lallen war mehr als deutlich zu hören, was es Nina schwerer machte, die Stimme einer Person zuzuordnen. Als die Gestalt, die offensichtlich männlich zu sein schien, ihre Kapuze vom Kopf zog erkannte Nina, auch wenn die Straßen nur spärlich beleuchtet waren, dass es Andre war, der gerade vor ihr stand. Er trat auf sie zu und musterte sie neugierig, bis sein Blick zu ihrem Koffer glitt. „Wo warst du? Und was machst du um die Uhrzeit noch auf der Straße?", fragte er ein wenig verwundert. Nina faszinierte es, dass er trotz seiner Trunkenheit trotzdem noch solche Zusammenhänge herausarbeiten konnte. Anscheinend schien der Alkohol die Sinne doch nicht so massiv zu benebeln wie sie gedacht hatte... oder Andre war es einfach gewohnt sich zu betrinken und hatte so etwas wie eine Resistenz entwickelt.

„Ich war bei meinem Vater, und bin auf dem Weg nach Hause", sagte sie wahrheitsgemäß. Er nickte nur, aber gab sich mit ihrer Antwort nicht zufrieden: „Was ist passiert?" Seine Stimme hatte einen Hauch von Besorgnis. Aber er wusste ja schließlich, was in ihrer Familie vor sich ging. „Die Freundin"- das Wort Freundin spuckte sie schon fast aus, so verächtlich betonte sie das Wort -„meinte mich beschimpfen zu müssen, da hab ich mein Zeug gepackt und bin abgehauen", erzählte sie. Sie vertraute ihm voll und ganz. Er konnte ihre Situation nachempfinden, weswegen er, die Schnapsflasche, die er in den Händen hielt, Nina anbot. Nina stockte daraufhin. Sollte sie es wagen? Ihre Sorgen in Alkohol ertränken? „Das macht es um einiges leichter und lässt dich das alles für einen Moment vergessen", erklärte er. Es klang so verlockend und überhaupt, was hatte sie zu verlieren? Nichts! Sie hatte ja schon alles verloren, was ihr wirklich wichtig war. Jan, das Vertrauen zu ihrem Vater, obwohl, das hatte sie ja eigentlich neu wieder gewonnen, aber Mareike ließ den Schein trügen. Das einzige, was noch ganz da war, war ihre Mutter, die voll und ganz zu ihrer Tochter hielt. Sie hätte bestimmt nicht gewollt, dass Nina sich den Kummer von Seele soff. Nein, ganz bestimmt nicht. Die Vernunft schien zu siegen, aber irgendetwas in ihrem Inneren drängte sie dazu die Falsche zu nehmen. Als wäre es etwas wie ihre Bestimmung, das jetzt zu tun. Sie zuckte mit ihren Schulter und ergriff die Flasche, bevor sie die Öffnung zwischen ihre Lippen klemmte und einige reichliche Schlücke daraus nahm. Der Alkohol brannte sich den Weg Ninas Kehle hinunter, sie verzog ihr Gesicht. Als sie die ersten Schlücke hinter sich hatte fühlte sie sich jedoch leichter.

So waren Andre und Nina, sie hatten sich nebeneinander auf die Mauer gesetzt, noch einige Stunden beieinander und schimpften über alles Mögliche. Sie vertrauten sich ihre Probleme an, so erfuhr sie auch, weshalb Andre sich betrank. Seine Großmutter war krank geworden und er sorgte sich um sie, da sie ihm so immens viel bedeutete. Er erzählte Nina viele schöne Kindheitsgeschichten von ihm und seiner Oma. Bis ihr Gehirn irgendwann abschaltete und sie sich absolut an nichts mehr erinnern konnte.

Wie immer hoffe ich, dass euch das Kapitel gefallen hat! Ich werde versuchen an Weihnachten ein weiteres Kapitel hochzuladen, da dies hier zugegeben einer miese Stelle für einen Cut ist. :D

Noch einen wunderschönen 4.Advent! <3

Alte ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt