Kapitel 33- Die Wahrheit

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Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf und stand der schwebenden Frau gegenüber. Sie strahlte die gleiche Macht und Ruhe aus, wie jedes Mal. Ihr Blick wirkte leicht glasig und genau das machte mich so unsicher.
"Warum sollte mich die Wahrheit verletzen? Ich habe schon so vieles überstanden und so langsam frage ich mich, warum es immer noch schlimmer wird", schrie ich laut. Meine Stimme hallte erschreckend laut im großen Saal wieder, doch die Frau ließ sich davon nicht im geringsten beirren.
"Es wird dich nicht nur verletzen. Nachdem du es erfährst, musst du vorsichtiger sein. Ich glaube nur, dass es besser ist, wenn du es weißt, denn dann weißt du wenigstens wovor du dich verteidigen musst", erklärte sie und senkte betrübt den Blick. Verteidigen? Ich verstand nur Bahnhof. Ich wollte die Wahrheit jetzt wissen. So hätten die vielen Fragen endlich ein Ende.
"Wenn Sie auch so denken, dann sagen Sie es mir doch", verlangte ich und kniff die Augen zusammen. Die Frau nickte und schlug die Augen nider. Ich ballte die Hände zu Fäusten.
"Du hast recht. Es wird Zeit", stimmte sie mir zu. Die Angespanntheit wich von mir und ich versuchte, mich so locker wie möglich zu machen. Ich öffnete die Fäuste langsam und wartete. Das Zögern der Frau interpretierte ich dazu, dass sie überlegte. Schließlich rückte sie doch mit der Sprache raus: "Mein Name ist Szu und die Wahrheit ist, dass du der Grund bist, warum deine Freundinnen in Gefahr schweben."
Entgeistert starrte ich Szu an. Ich sprach gerade mit dem letzten Avatar, der eigentlich längst tot sein sollte. So langsam zweifelte ich daran, dass alles stimmte, was diese Frau da sagte. Und wieso sollte ich meine Freundinnen in Gefahr bringen? Das war doch unlogisch. Und diese Antwort gab mir noch mehr Fragen auf.
"Und du erwartest ernsthaft, dass ich dir das jetzt glaube?", fragte ich ungläubig. Die angebliche Szu seufzte und wandte sich ab, als ob sie vorher gewusst hätte, dass ich ihr nicht glauben würde.
"Du musst mir glauben, denn es ist die Wahrheit", versicherte sie mir. Ich war hin und her gerissen. Ich wusste nicht mehr, was ich überhaupt noch glauben konnte.
"Und das soll schon die ganze Wahrheit gewesen sein? Warum machst du so ein großes Geheimnis daraus?" Ich beschloss, sie vorerst zu dutzen, bis sie einen Beweis für ihre Aussage hervorbrachte. Dann würde ich ihr glauben müssen. Aber bestimmt hatte sie sowieso keinen Beweis.
"Es war noch nicht die ganze Wahrheit", gestand sie emotionslos. "Es war nur ein Teil davon." Ich konnte den Frust, der in mir hochstieg gerade noch zurückhalten und zwang mich zu einem kurzen Lächeln. Ein drittes Mal würde ich sie sicher nicht bitten. Vielleicht sollte ich besser einfach umdrehen und wieder ins Zimmer zurückgehen. Aber dann würde ich die Wahrheit sicher nie erfahren. Deshalb schwieg ich bis sich die Frau räusperte.
"Die ganze Wahrheit ist, dass dich der Spion die ganze Zeit angelogen hat und..." Sie verstummte wieder, was mir fast noch den letzten Nerv raubte, doch ihr Schweigen gab mir genug Zeit, um darüber nachzudenken, was sie gesagt hatte. Welcher Spion? Doch nicht etwa Christian? Nun ja, ich wusste ja schon, dass Christian gern dazu tendierte mich anzulügen. Gleichzeitig stellete ich mir die Frage, warum ich mit einem Jungen zusammen sein wollte, der mich anlog? Aber mein Instinkt sagte mir, dass die Frau das nicht meinte. Und ihr Gesichtsausdruck. Sie wusste etwas, was ich nicht über mich wusste, sollte ihre Aussage tatsächlich stimmen. Das hieß, dass Christian mit allem gelogen hatte, auch dass er mich liebte. Ich würde mit ihm ein Hühnchen rupfen, wenn ich ihn das nächste Mal sah. Und nicht nur das!
Aufeinmal war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich ihr Glauben schenken musste. Christian hatte mir gesagt, er würde bei den Schatten spionieren und erst jetzt begriff ich, dass es in Wahrheit umgekehrt war. Er spionierte hier und er suchte jemanden, den Avatar, wie ich bereits gehört hatte. Er war gar nicht der Avatar, aber wer dann?
"Szu, ich glaube Ihnen ja, doch es gibt da einen Haken: Wenn die Schatten den Avatar getötet haben, dann würde er nur wieder neu geboren werden. Und wer weiß schon, ob der Avatar wirklich existiert?", fasste ich meine Bedenken zusammen. Szus Blick drückte tiefe Trübsal aus.
"Ich kann die nicht sagen, was die Schatten vorhaben, das würde die Zukunft beeinträchtigen. Ich kann dir jedoch sagen, wer der Avatar ist. Er ist der Grund, warum deine Freundinnen in Gefahr schweben", erklärte Szu.
"Warte mal, hast du gerade eben nicht gesagt, ich würde meine Freundinnen in Gefahr bringen?" Szu biss sich auf die Unterlippe. "Sag mir doch wer der Avatar ist. Vielleicht kann ich ja mit ihm reden und ihn bitten mit seinen Späßen aufzuhören", hoffte ich. Bei diesem Satz legte ich die Betonung auffallend auf "Späße". Szu schwebte näher an mich heran.
"Der Avatar kann seine Kräfte noch nicht kontrollieren. Ich befürchte, das wird nicht so einfach werden", erzählte sie und seufzte. Ihr Seufzen hätte man allerdings genauso gut als Stöhnen bezeichnen können. Ich rollte mit den Augen und fragte mich, wie lange ich hier wohl schon stand und ein Gespräch mit Szu zu führen versuchte. So langsam sollte sie bitte mal zum Punkt kommen.
"Ich gebe dir einen Tipp: Willst du dich ernsthaft selbst bitten mit den Späßen aufzuhören?" Beinahe hätte ich mich verschluckt.
"Warte mal, willst du damit etwa andeuten, dass ICH der Avatar bin?", stieß ich entsetzt aus. Das wiederrum hieß, dass die Schatten versuchten, mich zu töten. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie Christian suchten, aber das taten sie gar nicht. Das Schicksal der Schule lag jetzt also in meinen Händen. Denn, wenn die Schatten den Krieg begannen und ich mich innen nicht freiwillig überließ, würden viele der Schüler ihr Leben verlieren, wegen mir. Wenn der Zeitpunkt kam, würde ich alles versuchen und wenn nichts davon klappte, würde ich mich sozusagen opfern müssen. Ich hätte mir außerdem gleich denken können, dass mir Szu nicht direkt antwortete.
"Du bist mein Nachkomme und ich bin der Avatar, falls es dir hilft die Sache zu verstehen." Mir blieb die Spucke weg. Und ich gaffte Szu sprachlos an. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, die Kinnlade nach unten zu schieben. Das war jetzt nicht echt passiert oder? Es war ein Schwerz von Szu, genau. Nur lustig war er nicht und das machte einen guten Scherz nun mal aus. Sie wollte nur mein gaffendes Gesicht sehen, nicht wahr? Es war doch ein Scherz?
"Ich glaube Sie wollen mich auf den Arm nehmen", sprach ich es aus.
"Oh nein, das will ich keinesfalls", versprach sie ehrlich. Ich betrachtete sie mit einem skeptischen Blick. Von gestern auf heute würde sich mein Leben also von Grund auf ändern. Fast so, als wenn ich gerade erst von Elementbändigern erfahren hätte, aber doch irgendwie anders. Und ich musste dringend lernen meine Kräfte zu kontrollieren, bevor meinen Freundinnen noch etwas zustieß. Dies sollte ich unbedingt verhindern. Ich machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Raum. Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Ich war schon eine, der wenigen Elementbändiger, jemand Besonderes. Circa 2500 Elementbändiger gab es auf der Welt. Doch den Avatar, ihn gab es nur einmal. Er konnte alle vier Elemente bändigen. Klar, es hatte schon Avatare vor mir gegeben, doch ich konnte mich nicht mit jemandem lebenden austauschen, der das Gleiche durchmachen musste, wie ich. Sonst hatte ich immer Cat gehabt. Was sollte ich meinen Freundinnen denn sagen? Vielleicht war es besser, zuerst nicht mit ihnen darüber zu reden. Vorerst. Ich würde es ihnen früher oder später erzählen. Im Zimmer angekommen öffnete ich die kleine Tür und stolperte ins Zimmer. Dort saßen meine Freundinnen auf Corals Bett und sahen mich neugierig an, bis auf Alice natürlich, die bestimmt wieder bei ihren Mädels herumhockte.
"Alles in Ordnung?", wollte Cat verwundert wissen. Ich wischte mir über die Augen, weil ich merkte, dass sie während des Rennens wieder feucht geworden waren. Ich nickte, auch wenn es ein schreckliches Gefühl war sie anzulügen. Ich setzte mich zu ihnen auf Corals Bett.
"Ja, alles ist gut."

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