Kapitel 48- Verderben?

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Madline

Ich sah mein Leben in Zeitlupe vor mir ablaufen. Das kleine Mädchen, dass im Kindergarten meist allein an einem Tisch gesessen hatte, dass traurig war, weil niemand ihre Freundin sein wollte. Ich hatte mich nie über meine Familie beschwert, die versuchte, mit mir Zeit zu verbringen und es doch nicht schaffte. In der Primary School von allen gehasst, verabscheut, niedergemacht und manchmal unbeachtet. Behandelt wie Dreck. Später wurde es schlimmer. Wer hätte ahnen können, was passiert wäre? Mit Jes und Zack. Wieso schenkte ich mein Vertrauen denen, die es zu ihren Gunsten ausnutzten? So eine Idiotin wie mich gab es bestimmt kein zweites Mal. Ich war in einer Akademie für Elementbändiger aufgenommen worden, war nie etwas Besonderes gewesen und sollte mich jetzt auf einmal daran gewöhnen, dass Hoffnung auf mir lag? Auf dem unbedeutenden, kleinen Mädchen?
Ich schüttelte mich, sodass die Ketten über mir rasselten. Noch immer raubte mir das Platin die Kraft. Ich konnte kaum glauben, dass es mich noch nicht umgebracht hatte. Die Zeit konnte ich nicht richtig einschätzen. Ich hatte versucht einzuschlafen, doch es fiel mir gar nicht so leicht, im Stehen wegzudösen. Irgendwie schien ich in einer Art Trance zu sein. Die Augen halb geschlossen, die Miene wie versteinert, den Kopf gesenkt, reglose, schwere Beine, die an mir zogen wie Betonklötze und die versteinerten Finger. Wenn meine Handgelenke nicht so höllisch brennen würden, hätte ich wahrscheinlich längst vergessen, wo ich hier war. Oder wenn ich die Schritte nicht gehört hätte. Diese Schritte, die mir schon die nächste Überraschung ankündigten. Liebend gern hätte ich meinen Frust hinausgebrüllt, doch stattdessen kehrte die Angst zurück. Sie schnürrte mir beinahe die Kehle zu. Aber als ich den Schritten wieder genauer lauschte, erkannte ich, dass es kein Schatten sein konnte, auch nicht der Schattenherr, dafür waren die Schritte nicht laut genug. Ich zog die Augenbrauen zusammen, weil ich mir sicher war, dass hier jeden Moment Christian in der Tür stehen würde. Oder besser gesagt: der Spion. Wie wütend ich auf ihn war, ließ sich nicht in Worte fassen, dennoch sollte ich Recht behalten, denn nach einigen verstrichenen Sekunden öffnete sich die schwere Tür tatsächlich und Christian trat ein. Er schloss die Tür so leise hinter sich, dass es mir sofort verdächtig vorkam. Hatte ihn etwa der Schattenherr geschickt?
Ich durfte mich auf keinen Fall von seinem guten Aussehen blenden lassen, ich musste versteinert wirken, so wie vorhin. Nur irgendwie kam es mir gar nicht so vor, als hätte der Schattenherr Christian geschickt, dafür sah seine Miene so schuldbewusst aus. Oder er log mir etwas vor, so wie ich es bereits von ihm kannte.
Nervös fuhr er sich mit der Hand durch das Haar, sodass es noch zerstrubbelter aussah. Ich wollte wegsehen, aber ich konnte meinen Körper gerade einfach nicht kontrollieren. Ja, ich wollte diesen Jungen, ganz gleich, wie sehr er mich verletzt hatte. Ich war noch nicht über ihn hinweggekommen und ich würde es auch nie, dafür liebte ich ihn zu sehr, doch leider schien er meine Gefühle nicht zu erwidern. Ich durfte ihn nicht lieben! Mein Herz begehrte jemanden, den ich nie bekommen würde.
Sein Blick suchte meinen, ich wich ihm jedoch aus und sah zur Seite, bis ich mich daran erinnerte, dass ich auch hier keine Emotionen zeigen sollte. Keine Gefühle! Also starrte ich ihn direkt an. Ich betrachtete ihn eindringlich und musste schlucken, als ich bemerkte, dass ihn etwas bedrückte. Wie konnte diesen Verräter etwas bedrücken? Während er alles hatte, hatte ich nichts mehr. Alles hatte ich verloren. Meine Freunde, meine Eltern und bald auch mein Leben wegen einer einzigen Entscheidung.
Sein Blick glitt zu Boden.
"Mich hat niemand geschickt", begann er, was meine Vermutung bestätigte. Kurz holte er tief Luft, bevor er fortfuhr. "Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Sogar mehr als einen. Ich habe gedacht, wenn ich mich rächen könnte, wäre ich glücklich, aber ich habe mich geirrt. Es gibt nichts mehr, was mich glücklich macht. Ich habe zu sehr an mich gedacht und dabei wichtige Dinge übersehen, die mir sofort hätten auffallen müssen, wenn ich nicht so ein Idiot gewesen wäre. Es... tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Alles tut mir leid. Dass du jetzt in dieser Lage bist, ist größtenteils meine Schuld und deswegen wird eine Entschuldigung nun auch nicht mehr ausreichen. Ich werde versuchen dich hier rausbringen. Ich kenne mich hier besser aus als du und ich kann dir helfen, wenn du mich lässt."
Er sah auf, mitten in meine teils überraschte, teils unglaubwürdige Miene. Völlig perplex stand ich vor ihm und starrte ihn an, als stünde vor mir ein außerirdischer Marsmensch. Hätte ich den Kopf noch schief gelegt, würde nicht mehr viel fehlen, damit ich aussah wie ein Hund. Seine Worte verschlugen mir beinahe die Sprache. Dieser (gutaussehende) Verräter bot mir seine Hilfe an? Es musste definitiv eine Falle sein. Ich sprach meinen Gedanken laut in einer Frage aus.
"Woher soll ich wissen, dass du mich nicht belügst oder, dass es nicht doch eine Falle ist, um mich in einen bestimmten Raum für meinen Tod zu locken?" Zugegeben kam es ein wenig hart, doch ich wollte es überprüfen. Mit der Antwort die kam, hätte ich nicht gerechnet. Er näherte sich mir langsam. Fast gleichzeitig bemerkte ich das Prickeln auf meiner Haut.
"Weißt du noch, damals im hohen Gras, als wir neben dem Schattenwald entlang gegangen sind, um Coral zu suchen?", fragte er mich mit ruhiger Stimme. Ich erinnerte mich daran, nur um mich dann zu ertappen, wie ich dachte, dass er die Sache mit Coral eingefädelt hatte, um sich in mein Zimmer schleichen und das Buch stehlen zu können. Schnell verwarf ich den Gedanken.
"Wie könnte ich das vergessen?", meinte ich mit einem sarkastischen Unterton. Christian beachtete ihn nicht, er kam nur noch näher. Wollte ich das? Ich wusste es nicht. Ich ließ es geschehen, weil ich sowieso nicht viel dagegen tun konnte.
"Ich habe dir gesagt, dass ich mich an der Person rächen möchte, die meine Eltern getötet hat und auch, dass ich es nicht kann. Das liegt daran, dass ich diese Person viel zu sehr liebe, als das ich sie hätte töten können." Genau vor mir blieb er stehen, sodass ich seinen Atem spürte. Er war warm und sofort überrollte mich eine Wärmewelle. Es fühlte sich gut an. Mein Gehirn schien noch etwas eingerostet zu sein, weshalb ich mir noch nicht ganz zusammengereimt hatte, was er meinte.
"Du hast meine Eltern getötet", half er mir auf die Sprünge und mit einem Mal entwich die Wärme aus meinem Körper so schnell wie sie gekommen war. Fassungslos sah ich ihn an.
"Wie bitte?", fragte ich nocheinmal nach. Er ging einen Schritt zurück und seufzte. "Ich komme da jetzt irgendwie nicht ganz mit", fügte ich hinzu. Seine haselnussbraunen Augen blickten trüb drein und ich ermahnte mich, mein Mitleid nicht für ihn zu verschwenden. Er drehte mir den Rücken zu und lief ein wenig auf und ab, was mich nur noch unruhiger machte.
"Du hast meine Eltern getötet",wiederholte er,"in deinem früheren Leben. Geister leben lange, noch länger als Elementbändiger. Im Klartext, der Avatar vor Szu, Van Ling, hat meine Eltern ermordert und da er in deinem Körper steckt, wollte ich mich an dir rächen. Mir stand nichts im Weg, nur die Liebe zu dir. Du bist nicht die Einzige, die eine folgenschwere Entscheidung getroffen hat." Er lief seine Runde zu Ende und kam vor mir wieder zum Stehen. Jetzt verstand ich es. Das Blut gefror in meinen Adern, weil ausgerechnet ein Avatar Christians Eltern umgebracht hatte(warum auch immer die Avatare vor mir einen chinesischen Namen trugen). Jetzt war ich es, die den Blick senkte. Deshalb bemerkte ich zu spät, wie nahe sich Christian zu mir hinüberbeugte. Ich schaute erst auf, als seine Lippen direkt vor meinen waren. Und beinhae zu spät, bemerkte ich, dass ich das nicht wollte. Kurz bevor sich seine Lippen auf meine legten, drehte ich den Kopf weg.
"Stop", brachte ich energisch hervor, denn was anderes blieb mir auch nicht. Am liebsten hätte ich ihn geohrfeigt, doch mir waren wortwörtlich die Hände gebunden. Gleichzeitig fragte ich mich, warum ich den Kuss dieses heißen Typens ablehnte. Wo ich es immer so gern gewollt hätte und jetzt...
"Ich möchte das nicht. Ich will mir zuerst sicher sein, dass du es wirklich ernst meinst und solange ich nicht ganz genau..."
Mein Satz wurde plötzlich von Schritten unterbrochen. Schritten auf dem Gang. Ich erkannte auf der Stelle, dass es zwei Personen waren. Christian warf mir einen schnellen Blick zu.
"Los jetzt! Ich weiß, wie du das Platin loswirst, aber du musst genau das tun, was ich dir sage. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, versuchtst du so viel Wärme wie möglich in dich aufzunehmen. Du hast zwei Fackeln in diesem Raum und wenn sie dir nicht helfen, musst du die Wärme erzeugen. Das wird zwar schwierig, du musst es jedoch versuchen. Nutze die Fackeln! Viel Glück!" Und mit diesen Worten wandte er sich um und presste sich gegen die gegenüberliegende Wand genau neben die Tür. Um ehrlich zu sein hatte ich kein Wort verstanden.
Christian gab mir ein letztes Zeichen und deutete zuerst auf seine, dann auf meine Augen. Er würde mich beobachten. Und in dem Moment, als zwei Schatten die Tür öffneten, verschwanden Christians Umrisse und seine Gestalt verschmolz mit der Farbe der Wand. Er tarnte sich. Kein Wunder, ich kannte mich nur nicht wirklich mit seinen Fähigkeiten aus. Mir fiel trotzdem auf, dass die Stelle, an der er sich tarnte verräterisch schimmerte. Da funktionierte doch etwas nicht.
Die Schatten interessierten sich wenig für die schimmernden Umrisse oder übersahen sie. Einer von ihnen hielt eine seltsame Dose in den Händen. Vor mir hielten sie an und warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Daraufhin öffnete der eine Schatten die Dose. Ich beugte mich etwas vor, um besser sehen zu können, wurde aber von dem anderen Schatten grob zurückgedrückt. Schatten Eins holte einen kleinen, hölzernen Stock hervor. Also wenn sie mich damit fertigmachen wollten, musste ihnen schon etwas Besseres einfallen. Nur leider blieb es dabei nicht. Der Schatten tauchte das Stück Holz einmal in die Dose und zog es danach vorsichtig wieder heraus. Jetzt klebte an der unteren Hälfte des Holzes eine klebrige, glänzende, blaue Flüssigkeit. Ich glaubte, lieber nicht zu wissen, was es war. Ich blickte hilfesuchend zu Christian, aber nun schien er das Flimmern halbwegs unter Kontrolle zu bekommen, sodass ich nicht mehr wusste, wo er war. Er sollte gefälligst was unternehmen, wenn er mir helfen wollte. In diesem Moment flackerte Christians Gestalt hinter dem ersten Schatten auf. Er nickte mir zu und bändigte das Feuer der Fackeln zu einem Feuerball. Das sollte wohl das Zeichen gewesen sein. Ich konzentrierte mich. Ich versuchte es wirklich und stellte mir vor, wie ich die Wärme der Fackeln in mich aufnahm. Ich vernahm allerdings auch seltsame Geräusche. Etwas oder jemand wurde auf den Boden geworfen und dann hörte ich Christians verbissenes Keuchen und das Knurren des Schattens. Ich öffnete für einen Moment die Augen, um mir ein Bild zu machen, was geschehen war. Der erste Schatten lag am Boden und löste sich gerade in Staub auf. Die Dose war ihm aus der Hand gefallen und rollte ohne Deckel auf dem Boden herum, während Christian vergeblich versuchte, den Schatten niederzustrecken und umgekehrt. Die Flüssigkeit lief zudem aus.
"Mach schon", brachte Christian hervor und wich einer schwarzen, klebrigen Energiekugel gekonnt aus. Ich gab mir nocheinmal Mühe und sammelte mich. Ich probierte es tatsächlich. Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Ich konnte ganz deutlich die Energie fühlen, die mich umgab, aber ich schaffte es nicht, sie in mich aufzunehmen. Ich konnte die Kälte deutlich wahrnehmen, statt der Wärme, die ich brauchte.
"Ich schaffe es nicht", antwortete ich leise. Christian überhörte mich, doch ich nahm es ihm nicht übel. Bei dem Kampflärm müssten die anderen bald hier sein. Ich musste mich zusammenreißen und versuchte es erneut, aber die Wärme war verschwunden und machte der Kälte Platz. In diesem Moment schaffte es der Schatten, Christian mit einem klebrigen Netz an die Wand festzunageln. Schatten Zwei hob die Dose blitzschnell vom Boden auf und kam bedrohlich auf mich zu. Christian konnte mir nun nicht helfen. Ich rasselte wieder an den Ketten, doch es nützte mir rein gar nichts. Der Schatten kratzte mit dem Stock das letzte bisschen blaue Flüssigkeit aus, da die Hälfte sich in einer Pfütze auf dem Boden verteilt hatte. Die Angst lähmte mich, ich war bewegungsunfähig. Der Feind führte das Holzstück zu meiner Stirn und verteilte die Flüssigkeit in einem seltsamen Zeichen. Ich wusste nicht, wie es aussah oder wozu es gut war, aber es schien mir sicher kein Glück zu bringen. Oder vielleicht doch?
Auf einmal geschahen zwei Sachen gleichzeitig. Christian befreite sich aus dem klebrigen Netz und verbrannte den Schatten von hinten mit einem Feuerball und in mir breitete sich endlich die wohlige Wärme aus, die ich brauchte. Ich nutzte die Wärme und stellte mir vor, wie ich sie in meiner Hand halten könnte. Eine Kugel aus wunderschönen, strahlenden, orangenen Fäden, die mir Kraft verlieh. Schließlich sprengte die Wärme die Platinfesseln und ich war frei. Ich rieb mir die brennenden Handgelenke und biss die Zähne zusammen, um den Schmerz zu verdrängen. Wie war das denn passiert? Hatte es tatsächlich geklappt? Mir blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn Christian zog mich zur Tür und spähte auf den Gang hinaus.
"Ich wusste, dass du es kannst", wisperte er und zum ersten Mal seit Tagen stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen, obwohl ich mir fast sicher war, dass ich es nur durch diese widerliche Flüssigkeit geschafft hatte.
"Kann man die Flüssigkeit abwischen?", fragte ich, statt einer Antwort. Christian drehte sich zu mir um und schüttelte den Kopf. Ja, was für eine dumme Frage von mir, aber ich kannte mich damit nun mal nicht aus. Hätte ich doch nur mehr in den Büchern unserer alten Bibliothek gelesen.
"Du könntest es zwar versuchen, aber es würde dir nicht viel bringen. Die Flüssigkeit ist jetzt fest geworden und verteilt sich in deinem Körper. Sie zwingt dich dazu den Avatarzustand zu benutzen und wenn du es tust, müssten sie dich nur töten, um dich endgültig aus dem Weg zu räumen. Zum Glück haben wir noch etwas Zeit bis sich die Flüssigkeit vollständig in deinem Körper ausgebreitet hat. Deshalb sollten wir uns beeilen", warnte er mich, zog mich am brennenden Handgelenk auf den Gang hinaus. Gern hätte ich ihn gefragt, warum er sich bei der Tarnung zuerst schwer getan hatte, aber ich war mir sicher, dass ich keine Antwort bekommen würde. Also drückten wir uns fest gegen die Wand und blieben im Schatten. Wir schlichen links durch den Gang, als wir von rechts weitere Schritte hörten.
"Schnell", kommandierte Christian und schlüpfte durch die nächstgelegene Tür. Ich folgte ihm und er ließ die Tür hinter uns etwa für einen Spalt offen. Ich sah mich um und betrachtete den Raum eingehend. Überall standen Truhen herum und von den Decken hingen Sinnenweben herab, als wäre seit Jahren niemand mehr hier gewesen. Auf den Holztruhen lag eine dicke Schicht aus Staub. Ich holte tief Luft und pustete die Staubschicht weg. Mit der Hand wischte ich ein Spinnennetz bei Seite. Darunter konnte ich eine Innschrift erkennen: Altes Waffenlager. Christian stellte sich zu meiner linken auf, unentschlossen, ob er wirklich wissen wollte, was in der Truhe lag. Ich war es jedenfalls nicht. Neugierig öffnete ich den Deckel, doch die Truhe war leer.
"Altes Waffenlager", murmelte Christian. "Sonst ist die Tür immer abgeschlossen", erzählte er mir und wandte sich um. Ich untersuchte die Kiste genauer. Der Deckel war nicht gerade dünn und als ich dagegen klopfte, merkte ich, dass es dort einen hohlen Zwischenraum gab. Ich fuhr an den Seiten des Deckels entlang und öffnete eine hölzerne Klappe. Nun musterte auch Christian den Inhalt des Deckels. Es war ein längliches Schwert mit einem dicken Knauf und einem schmalen Griff. Die Schneide glänzte wie pures Silber. Es lag auf der Klappe, welche außerdem noch mit einem roten, weichen Polster bedeckt wurde. Christian nahm es ohne zu zögern.
"Vielleicht brauchen wir es noch", teilte er mir mit und hielt es waagerecht in den offenen Handflächen vorsichtig, als wäre es wertvoller als Gold. Es strahlte pure Energie aus und irgendwie spürte ich schon vorher, dass von ihm eine gewaltige Energie ausging.
"Irgendwie komme ich mir gerade vor, wie die Menschen, die ihren Dachboden entrümpeln wollen und dabei etwas Außergewöhnliches finden", erzählte ich und dachte an ein Buch zurück, dass ich vor etwas anderthalb Jahren gelesen hatte. Die typische Story in denen die Hauptperson den Dachboden durchsucht und plötzlich herausfindet, dass man ein magisches Artefakt oder etwas ähnliches gefunden hat.
"Du hast zu viel Fantasy gelesen", glaubte Christian tonlos. Ich rollte nur mit den Augen und schaute mir die Schneidefläche genauer an, wobei mir auch hier eine Schrift auffiel, dieses Mal auf Latein. Bevor ich meine Übersetzung starten konnte, drehte sich Cristian mit dem Schwert wieder weg und spähte durch den schmalen Türspalt.
"Ich glaube die Luft ist rein. Komm schon", forderte er mich auf. Wir verließen das alte Waffenlager und liefen den Gang entlang, aber eigentlich war liefen nicht das richtige Wort. Ich kam mir auf einmal selbst vor wie ein Spion. Christian ging mit erhobenem Schwert voran und ich hoppelte ihm wie ein ängstlicher Hase hinterher.
An jedem Bogen hielten wir an und lauschten. Erst, wenn wir uns sicher waren, dass wir niemandem in die Arme laufen würden, bewegten wir uns vorwärts. Langsam und zielstrebig. Irgendwann kam ein Bereich mit mehreren Türen. Niemals würden wir hier an denen vorbeikommen ohne gesehen zu werden. Einige Türen standen sogar offen, sodass gedämpft Stimmen zu hören waren. Mein Herz klopfte wie wild und ich musste verzweifelt feststellen, dass ich zitterte, was heute nicht das erste Mal der Fall war. Wir mussten es vorbeischaffen, sonst war alles umsonst gewesen und ich würde mir das in meinem weiteren, kurzen Leben garantiert übel nehmen.
In diesem Moment drehte sich Christian zu mir um und reichte mir seine Hand. Ich zögerte noch. Wenn sie uns jetzt erwischten, würden wir definitiv keine zweite Chance erhalten. Dann waren wir, wie in Filmen so gern gesagt wurde, "verloren".Aber seltsamerweise war seine Ruhe ansteckend, sodass sich das Zittern beruhigte. Also legte ich meine rechte Hand zaghaft in seine. Sie war warm und weich und zum ersten Mal war ich mir sicher, dass er es ernst meinte und dass ich ihm vertrauen konnte. Ich nickte ihm zu und er umschloss meine Hand fester. Ich ließ es zu. Dann gingen wir los. Während wir dicht neben der Wand entlanggingen, achtete Christian an jeder offenen Tür darauf, dass die Personen uns den Rücken zugedreht hatten, bevor wir uns weiterschlichen. Mit ihm an meiner Hand kam ich mir nun nicht mehr vor wie ein Spion, sondern wie ein dreijähriges Kind, dass es bei seinem Vater gerade wirklich verbockt hatte, aber es war mir egal. Ich wollte nur noch bei ihm sein und solange ich seine Hand hielt, fielen die Sorgen von mir und machten der Hoffnung Platz.
Wir ließen viele Türen hinter uns, bei jeder glaubte ich, dass uns mein schneller Herzschlag verraten könnte. Mitten im Gehen spürte ich ein Ziehen in der Magengegend, dachte mir jedoch nichts dabei. Als wir um den nächsten Bogen gingen, sah ich am Ende des Ganges eine Treppe, die zu einer weiteren Tür führte. Erleichtert atmete ich auf, als hätte ich über der Tür ein rotweißes Exit-Schild blinken sehen. Da war er endlich, der Ausgang, zumindest erkannte ich die Tür als solchen. Und auch von Christian wich die Angespanntheit. Doch an einer Tür mussten wir noch vorbei gehen. Sie stand offen, weshalb ich Stimmen vernahm. Die deutliche Stimme des Schattenhernn. Und ausgerechnet jetzt ließ Christian meine Hand los. Ich hatte es fast geschafft, nur noch eine Tür vom Leben, von der Freiheit entfernt...
Tief holte ich Luft. Ich war nicht bereit, aber ich würde es nun mal tun müssen. Also drückte ich mich an Christian vorbei und ging voraus. Er sollte nicht sehen, dass ich mich eigentlich nicht traute, dass ich so feige war.
Ich unterdrückte das Zittern erfolgreich und setzte einen Fuß vor den anderen. Ein Blick in den Raum bestätigte meine Vermutung. Dort stand der Schattenherr in seinem langen, schwarzen Mantel neben einem Tisch, in der Hand einen glänzenden Gegenstand. Von hinten schob mich Christian vorwärts, bevor ich den Gegenstand genauer identifiziert hatte. War das etwa ein Messer gewesen? Ich musste unwillkürlich schlucken und beeilte mich, um den Ausgang zu erreichen. Bei den Treppen nahm ich gleich zwei Stufen auf einmal, drückte oben angekommen die Klinke herunter, trat hinaus ins Freie und stieg gleich die nächsten Treppen nach oben. Zugegeben, ich hatte keine sonnige, friedliche, grüne Landschaft mit Schafen und Schmetterlingen erwartet, aber das hier auch nicht.
Vor uns lag ein großer, ebener Platz. Überall lag Asche auf dem Boden, die vom Wind verteilt wurde und den ganzen Platz bedeckte. Der Himmel war bewölkt und kündigte einen Sturm an, falls schwarze Wolken im Schattenreich nicht zur Tagesordnung gehörten. Hinter mir führten die Treppen zum Eingang des unterirdischen Ganges, rechts stand eine alte Ruine, völlig zerstört, unbeachtet, in sich zusammengefallen und vor uns der Schattenwald, dessen Bäume im Frühling kein einziges Blatt trugen. Die dürren Äste wiegten im Wind hin und her. Dieser spielte auch mit meinen blutverklebten Haaren und ich sog die Luft förmlich in mich ein. Christian hatte sich links von mir postiert und warf mir einen Seitenblick zu.
"Willkommen im Schattenreich."
Ich erwiderte nichts darauf und stiefelte los. Ich wollte hier einfach nur weg und zwar so schnell wie möglich. Christian begleitete mich und zusammen stapften wir über den mit Asche bedeckten Platz. Von oben musste es so aussehen, als würden wir über ein schwarzes Meer laufen. Aber ich wusste, dass jedes Meer auch Gefahren mit sich brachte. Und dieses war mitunter eines der Gefährlichsten. Denn nach einigen Metern blieb Christian stehen. Fragend hielt auch ich an.
"Verdammt, wir werden beobachtet", informierte er mich. Verwirrt sah ich mich um. Und er sollte Recht behalten. Hinter der Ruine trat eine Gestalt in einem schwarzen Mantel hervor und näherte sich uns mit großen Schritten. Seine schwarze Maske wirkte noch unheimlicher als sonst und der Gegenstand in seiner Hand ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, denn es war tatsächlich ein Messer. Ich hätte wegrennen können, doch jetzt traten auch die anderen Schatten zwischen den Bäumen des Schattenwaldes und hinter der Ruine hervor. Das Ziehen in meinem Magen machte sich ebenfalls erneut bemerkbar. Wir hatten unsere Chance vertan, denn gegen gegen all diese Schatten würden wir nie im Leben ankommen.
Ich wandte mich wieder dem Schattenherrn zu und das Ziehen nahm augenblicklich zu. Es ließ sich nicht unterdrücken oder abschalten, es passierte einfach. Das Ziehen verstärkte sich immer mehr bis ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Ich war zu schwach. Die Schmerzen zwangen mich in die Knie. Das Letzte, was ich hörte, war das kehlige Lachen des Schattenherrn, danach wurde alles weiß.

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