Kapitel 49- Den Tod im Blick

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Um mich herum, war es ungewöhnlich still. Totenstill, um genau zu sein. Mit der Stille nahm meine Angst wieder zu. Ich fürchtete mich. Ich hatte mich auch vorhin gefürchtet und vielleicht hatte ich mich gar nicht vor dem Tod gefürchtet, sondern vor der Angst selbst. Immer wenn ich glaubte, ich hätte sie endlich überwunden, holte sie mich ein. Dabei müsste ich mich ihr nur entgegenstellen und mir selbst vertrauen. Wieso also vertraute ich mir nicht? Wovor fürchtete ich mich überhaupt? Es gab nur eine Möglichkeit, wie sich all das erklären ließ: Ich fürchtete mich vor mir, davor, dass ich es nicht schaffen würde. Daran hatte es die ganze Zeit gelegen, an der Angst zu versagen. Nun wusste ich, was zu tun war: Ich musste mein Selbstvertrauen stärken, indem ich das tat, was ich mich vorher nicht getraut hatte. Ruckartig öffnete ich die Augen. Was ich sah, ließ sich leicht beschreiben: Eine einzige Farbe, weiß. Nur weiß. Doch über mir entdeckte ich keine Ecken, die auf einen Raum oder Ähnliches hingewiesen hätten. Entweder der Raum war so groß, dass ich seine Wände nicht sehen konnte oder ich befand mich gar nicht in einem Raum. Aber wenn ich mich in keinem Raum befand, wo war ich dann? Schnell setzte ich mich auf und sah mich um. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich hier wohl nicht allein war. Neben mir stand eine Person. Mein Herz setzte kurz aus, weil ich sie vorher nicht bemerkte. Sie trug ein langes, grünes Gewand und hatte schwarze Haare, die ihr wie ein Wasserfall über die Schultern fielen. Ihre karamellfarbenen Augen blickten trüb geradeaus und obwohl ich einen erleichterten Seufzer ausstieß, als ich erkannte, wen ich vor mir sah, schien sie ihn nicht gehört zu haben. Die Person war Szu. Aber sie wirkte so leblos und ihr kalkweißes Gesicht ließ mich sofort wissen, dass etwas nicht stimmte. Zögernd erhob ich mich und stellte mich genau vor sie, doch Szu reagierte nicht. Musste ich mir Sorgen machen? Seufzend senkte ich den Blick. Was sollte ich nur tun? Ich war auf jeden Fall noch am Leben, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder in die richtige Welt zurückfinden sollte. Wollte ich überhaupt zurück? Dort wartete ein finsterer Schattentyp auf mich, der mich tot sehen wollte. Und natürlich seine Anhänger. Außerdem würde ich meinen Pflichten als Avatar nachgehen müssen, was ganz sicher nicht glimpflich enden konnte. Die Hoffnung würde wieder auf mir lasten, wenn ich zurückkam, aber ich wollte die Elementbändiger nicht im Stich lassen. Außerdem, was wäre ich für ein Avatar, wenn ich jetzt aufgab? Ich musste mir etwas einfallen lassen.

Noch während ich darüber nachdachte, nahm ich aus dem Augenwinkel ein Flackern wahr. Ich schaute auf und erblickte weitere Personen, deren Namen ich dieses Mal nicht zuordnen konnte. Sie trugen alle rote, grüne, dunkelblaue oder weiße Gewänder und starrten wie Szu stumm geradeaus. Irgendwie erinnerten mich diese Personen an Eisskulpturen. Wie viele Personen es genau waren, konnte ich schlecht einschätzen. Sie standen alle in einer langen Reihe nebeneinander (ohne eine einzige Lücke), welche sich immer weiter fortführte, als gäbe es kein Ende. Vorsichtig näherte ich mich dem Mann neben Szu. Er trug einen langen weißen Bart und ein feuerrotes, bodenlanges Gewand. So langsam dämmerte es mir, mit wem ich es hier zu tun hatte. Ich stand den Avataren der Vorzeit gegenüber. Und das wiederum musste heißen...
"Ich befinde mich im Avatarzustand", flüsterte ich ungläubig und holte tief Luft. Wenn dem tatsächlich so war, würde ich jeden Moment tot sein, wenn Christian den Schattenherr nicht von seinem Vorhaben abhielt. Ich würde aufhören zu existieren und alle Avatare vor mir ebenso. Er musste versuchen, den Schattenherr aufzuhalten, bis ich einen Weg gefunden hatte, wie ich hier schnellstmöglich fort kam.
"Du hast es erfasst", erklang plötzlich Szus Stimme hinter mir. Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Dort stand sie, mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. In ihr Gesicht kehrte die Farbe zurück und ihre Augen funkelten, so wie ich es von ihnen kannte. Am liebsten hätte ich mich ihr in die Arme geworfen, aber im Angesicht der Tasache, dass Christian meinen Tod nicht mehr würde herauszögern können, ließ ich es bleiben und kam direkt zur Sache.
"Szu, ein Glück. Ich brauche deine Hilfe. Ich muss hier so schnell wie möglich wegkommen und ohne deine Hilfe werde ich es nicht schaffen", erklärte ich ihr die Situation. Szu verzog keine Miene, sondern lächelte nur weiter, als müsste sie sich um nichts mehr Sorgen machen. Irgendwie fand ich es unangemessen, doch ich sprach es natürlich nicht laut aus.
"Nur die Ruhe", munterte sie mich auf. "Ich bin überzeugt, dass du den richtigen Weg allein finden wirst."
Entgeistert starrte ich sie an. Wenn ich den richtigen Weg allein finden konnte, wäre es doch schon längst passiert. Andererseits hatte ich vielleicht nicht gründlich darüber nachgedacht. Ich zerbrach mir den Kopf mit Überlegungen, doch irgendwie war er wie leergefegt. Mir fiel nichts passendes ein, was funktionieren könnte. Im Hinterkopf jedoch drängte mich der Gedanke, dass Christian den Schattenherr nicht mehr aufhalten konnte, wenn er denn nicht schon längst getötet worden war. Allein bei dem Gedanken spürte ich die Gänsehaut auf meinen Armen und mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Nein, so schwach war er nun doch nicht!
"Bitte, gib mir einfach einen Tipp", verlangte ich. Szu schüttelte den Kopf.
"Du weißt, dass ich eigentlich nicht in die Geschehnisse zwischen Elementbändigern und Schatten eingreifen darf", erinnerte sie mich. Ich bemühte mich, mir das Augenrollen zu verkneifen. Ja, das wusste ich, weil sie es mir schon mindestens 50 Mal eingebläut hatte. Dennoch brauchte es nur ein Wort, um mir Hoffnung zu geben.
"Eigentlich?", fragte ich nach und mein Gesicht erhellte sich, wie bei einem Kleinknd, das einen riesigen Eisbecher bekommt. Szu seufzte und legte mir ihre Hände auf die Schultern. So wirkte sie fast mütterlich.
"Madline, du befindest dich im Avatarzustand. Nutze ihn auch!", riet sie mir. Bevor ich etwas erwidern konnte, lösten sie und die anderen Avatare sich der Reihe nach in Luft auf und ich war wieder allein im weißen Nirgendwo. Jetzt wurde es ernst. So langsam musste ich wirklich mal zu Potte kommen. Ich holte tief Luft und setzte mich im Schneidersitz hin. Die Augen geschlossen, versuchte ich, mich ganz auf meinen Willen zu konzentrieren und die Energie, die mich umgab zu nutzen. In Wahrheit galten meine Gedanken allerdings Christian und ich hoffte, dass es ihm gut ging.

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