11. Die Auslosung

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Mitleid war meine größte Schwäche. Das wusste ich schon seit der Primary School, als Peter Gerold sich einen Spaß daraus gemacht hatte, meine billigen Buntstifte zu zerbrechen. Obwohl meine Lehrerin ihn jedes Mal belehrte, es nicht zu tun, geschah es immer wieder und als sie endgültig beschloss, ein Elterngespräch mi seinen Eltern zu führen, konnte ich einfach nicht anders, als es ihr auszureden. Peter hätte das Elterngespräch bestimmt wenig interessiert, aber ich kannte seine Eltern und wusste, wie sehr sie Peter unter Druck setzten, damit er gute Noten schrieb, was so gut wie nie passierte. Er stand mit der Versetzumg sowieso schon auf der Kippe und obwohl er nie Mitleid mit mir hatte, bekam ich welches mit ihm.
Die Schatten zu töten stand nie in meiner Absicht und dass ich kein Mitleid für sie erfunden hatte, musste daran liegen, dass nicht ich ihnen das Leben nahm, sondern der Avatar in mir. Das Mitleid war erst im Nachhinein gekommen, als sich der Avatarzustand verflüchtigt hatte.
Beim Kämpfen vergaß ich die Zeit. Die Gefühle beim Bändigen zu kontrollieren konnte äußert schwierig sein. Vor allem jetzt warf ich unkonzentriert mit Feuer- oder Wasserbällen durch die Luft, ohne mir vorher ein Ziel gesetzt zu haben. Zum Glück konnte ich beim Bändigen in diesem Raum keine Schäden verursachen.
Meine Hände bildeten ununterbrochen neue Energiekugeln, ohne dass es sich aufhalten oder abschalten ließ. Die Hitze im Raum trieb mir nach einer Weile Tränen in die Augen. Die Sicht verschwamm vor meinen Augen und ich musste mir selbst eingestehen, dass ich das Training in diesem Zustand nicht weiterführen sollte. Ich war bereit für die Schatten. Christian blieben nur noch wenige Wochen und ich wollte mir keine Chance entgehen lassen.
Draußen war die Sonne bereits fast untergegangen und kündigte somit den Abend an. Hier im Trainingsraum hing keine Uhr und da ich selbst keine trug und Coral versprochen hatte, rechtzeitig zur Auslosung unten zu sein, riss ich mich zusammen und taumelte keuchend auf den Ausgang zu. Auch wenn ich eigentlich keine große Lust auf die Auslosung verspürte und zwischen meinen Freundinnen und mir noch immer die Auseinandersetzung stand, wollte ich Kiki nicht im Stich lassen. Als eine ihrer Freundin war es meine Aufgabe, sie bei ihrem Vorhaben zu unterstützen. Ich seufzte, als mir auffiel, dass ich das viel eher hätte erkennen müssen.
Ich stützte mich am Türrahmen ab und blickte zur Falltür, die zum Jungenzimmer führte. Wenn Christian es nicht überlebte, hätte ich keinen Grund, diesen Raum noch einmal zu betreten. Den Raum, in dem wir damals zusammen auf der Fensterbank gesessen hatten und ich das erste Mal erfuhr, wie sich Liebe anfühlte.
Ich wandte den Blick ab und ging auf die andere Falltür zu. Die alte Holzplatte knarzte, als ich sie anhob und in den dunklen Gang sprang. Dunkle Gänge machten mir an sich nichts aus, doch wenn ich allein war, hatten sie eine ganz andere Wirkung auf mich. Außerdem erinnerte mich der Gang an das unterirdische Schattenreich. Die Gänge dort existierten nicht mehr, aber sie waren auf jeden Fall nur etwas höher gewesen als dieser.
Ich stieg die schmalen Treppenstufen hinauf und öffnete von innen die Tür.
Der Raum war leer. Ich hatte erwartet, die Mädels anzutreffen, aber sie mussten schon nach unten gegangen sein. Mein Blick fiel auf die Uhr. Erschrocken stellte ich fest, dass die Auslosung schon in vier Minuten begann. Die Kleidung klebte mir am Körper und vereinzelte Haarsträhnen hingen mir wirr im Gesicht, aber die Zeit würde nicht ausreichen, um schnell unter die warme Dusche zu springen. Also griff ich nach der Haarbürste und suchte mir frische Anziehsachen heraus. Im Eiltempo zog ich mich um, schnappte mir einen Haargummi und band das dunkelblonde Haar zu einem neuen Pferdeschwanz nach hinten. Flink warf ich die Bürste auf mein Bett, nahm die Schlüssel und eilte aus dem Zimmer.
Nachdem ich die Tür abgeschlossen hatte, hastete ich nach unten, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Am Fuße der Treppe wäre ich beinahe Mrs Crald, einer Erdtrainerin, in die Arme gelaufen. Zum Glück konnte ich mich rechtzeitig bremsen. Ich rannte auf die große Tür zu und drückte sie vorsichtig auf.

Im Saal herrschte große Aufregung. Die Schüler redeten wild durcheinander und ließen Mrs Chatfield, die ihren Platz am Pult eingenommen hatte, gar nicht zu Wort kommen. Mich wunderte, dass sie heute kein Mikrofon benutzte.
Erleichtert setzte ich mich in Bewegung und suchte die vorderen Reihen nach meinen Freundinnen ab. Schließlich entdeckte ich sie in der fünften Reihe. Coral hatte mir einen Platz frei gehalten. Ich zwängte mich an den Knien meiner Mitschüler vorbei und ließ mich stöhnend neben Coral nider. Ihr Gesicht erhellte sich sofort.
"Wir dachten schon, du kommst nicht", sprach sie laut aus, was wohl auch Kiki und Cat dachten. Ich japste nach Luft und schüttelte energisch den Kopf. Ich hatte mir vorgenommen, meine Freundinnen nicht noch einmal zu versetzen und ob es klappen würde, wusste ich noch nicht einmal selbst.
Vorne am Pult wurde Mrs Chatfield langsam ungeduldig. Sie wechselte ein paar Worte mit den anderen Gründern, nickte ihnen zu und hob die Hände nach oben, als wollte sie etwas auffangen. Wenige Sekunden später schoss ein Drache aus ihren Handflächen und flog in schlängelnden Bewegungen über die Köpfe der Schüler hinweg. Augenblicklich endete das Getuschel und die Blicke der Schüler richteten sich auf den Drachen. Einige wirkten überrascht, andere beäugten ihn misstrauisch. Seine Konsistenz schien nur aus Feuer zu bestehen. Mit seinen gewaltigen Schwingen drehte er einige Runden und flog knapp über dem roten Teppich im Gang zwischen den Stuhlreihen hindurch. Ein Raunen ging durch die Schülermenge. Als er an unserer Stuhlreihe vorbei flog, war die Wärme fast greifbar. Wenige Meter vor dem Pult der Direktorin erhob er sich erneut in die Lüfte und setzte zum Sturzflug an. Pfeilschnell schoss er auf die ausgestreckten Hände von Mrs Chatfield zu bis er sie erreicht hatte und darin verschwand. Die Stille, die nun im Saal herrschte, war erdrückend. Ich hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ich die Luft anhielt.
Kiki, die die geheime Bibliothek bis ins kleinste Detail studiert hatte, war schon im letzten Jahr ein Buch über Drachen und ihre Feuerkünste in die Hände gefallen. Sie konnte es gar nicht erwarten, uns von den Fähigkeiten dieser Wesen zu erzählen. Sie gehörten zu den höheren Feuerbändigerkünsten. Nur wenige Feuerbändiger besaßen die Kraft über einen eigenen Drachen. Soweit ich wusste suchten sich die Drachen ihre Besitzer selbst aus und beschützten sie in schwierigen Situationen. Angeblich besaßen sie sogar die Fähigkeit, der Seele nach dem Tod in einen neuen Körper zu helfen, was aber nur ein Mal klappte. Angeblich trug der Drache einen Teil der Seele seines Besitzers in sich, sodass er eng mit dem Bändiger verbunden war. Dieses Stück Seele gab er bei dem Übergang an seinen Gebundenen ab, obwohl es für den Drachen den Tod bedeutete. Nur zwei Prozent aller Feuerbändiger auf dieser Welt (und es waren schon wenige) wurden von einem Drachen beschützt. Leider traf dies nicht auf Christian zu. Ich kannte auch den Grund, warum mein Freund keinen Drachen in sich trug. Er war nicht direkt ein Kind des Feuers, sondern ein Geist und Geister wurden von Drachen nicht anerkannt.
Ein Klatschen ließ mich aus meinen Gedanken schrecken. In den hinteren Reihen brandete Beifall auf. Schließlich kannten sie sich mit den Fähigkeiten der Drachen schon besser aus, als die Obersekunda. Der zweite Jahrgang schloss sich dem Beifall des oberen Jahrgangs an und die Direktorin räusperte sich mit einem Lächeln auf den Lippen. Nun hatte sie unsere volle Aufmerksamkeit. Als der Beifall verebbte, erhob sie die Stimme.

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