Was genau ist mit Antofagasta?

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Erschrocken öffnete ich die Augen und zog meinen Kopf zurück.
„Du verwechselst Dankbarkeit mit etwas anderem, Samu", flüsterte ich.
„No, I don't", wisperte er ohne die Augen zu öffnen und versuchte mich erneut zu küssen.
Ich befreite mich aus seiner Umarmung und stand ihm gegenüber. Das Licht der Sonne schien ihm ins Gesicht.
„Das geht nicht", ich verschränkte die Arme vor der Brust, „du kannst mich nicht einfach so küssen."
Samu neigte den Kopf zur Seite und blinzelte mich an.
„Ich geh jetzt hoch und mach mich fertig. Das solltest du auch tun", sagte ich viel selbstsicherer als ich in Wirklichkeit war und ging schnellen Schrittes an ihm vorbei.
„Emma?", rief Samu, der immer noch am Fenster stand, als ich die Tür öffnete, „don't tell anybody, ok?"
„Sicher", sagte ich und schmiss die Tür hinter mir zu.


Als sich die Türen des Aufzugs hinter mir schlossen, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Mir schossen Millionen Gedanken durch den Kopf, die die Situation nicht besser machten. Ich war ein billiger Lückenfüller für ihn, weil seine Freundin ihn für einen jüngeren Mann verlassen hatte.
Sag es niemandem.
Wem sollte ich erzählen, dass wir uns geküsst hatten? Wovor hatte er Angst? Vor dummen Kommentaren seiner Jungs?
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und schlich im fünften Stock leise über den Flur. Gerade jetzt passte es mir gar nicht, dass sich das Zimmer am Ende des Korridors befand.
Vor der Tür der Suite blieb ich stehen und schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen. Ich hatte die Schlüsselkarte in meinem Zimmer vergessen. Sie lag auf der Anrichte. Ich wägte kurz die Möglichkeiten ab; Dritter Stock oder Eingangshalle? Peinlicher Schlafanzugauftritt an der Rezeption oder zurück zu Samu? Ich entschied mich gegen beide Varianten und klopfte zaghaft an der Zimmertür. Riku öffnete mir in Boxershorts die Tür und fuhr sich verschlafen durch seine braunen Haare. Sofort senkte ich den Kopf und versuchte mich unauffällig an ihm vorbei zu schieben.
Leider vergebens.
Er blockierte die Tür und suchte in gebückter Haltung meinen Blick. Ich wich ihm aus und drehte meinen Kopf immer wieder in die entgegengesetzte Richtung.
„What's wrong?", fragte Riku und hob mein Kinn mit seiner Hand an, sodass ich ihn ansehen musste.
„Nothing", antwortete ich grinsend und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Wanna talk?"
„No. Everything ok."
„You lie", meinte Riku, schob mich auf den Flur und schloss die Tür hinter sich, „what's wrong? What did Samu do?"
„Nothing."
„Emma. I can see that you lie."
Erneut kullerten mir Tränen über das Gesicht.
Riku drückte mich an sich und streichelte meinen Kopf.
„What happend?"
„I can't talk about it", schluchzte ich.
„Emma. Tell me."
„I don't have to."
„So he kissed you? And he told you that you don't have to tell anyone?"
Verwirrt blickte ich Riku an.
Wie konnte er das wissen?
„That's just logic", meinte er schulterzuckend, „I would do the same. I would like to talk to the person at first", er machte eine Gedankenpause, „he really likes you".
Ich musste ein hämisches Lachen unterdrücken.
„Of course not. I'm just a", ich überlegte, „Lückenfüller for him because Vivi left him for a younger guy."
„No", Riku schüttelte den Kopf und fasste mir an die Schulter, „wanna take a shower? To come down?"
Ich nickte und zog die Nase hoch. Riku drehte sich um und sah etwas unbeholfen auf die verschlossene Tür.
„Schlussel?", fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Me too", grinste er unsicher und auch ich musste mir ein Lachen verkneifen, als Riku mit der geballten Faust gegen die Zimmertür klopfte.
Finnisch fluchend öffnete Raul, lächelte mich an und schenkte Riku einen bösen Blick, um anschließend wieder in seinem Bett zu verschwinden. Ich nahm meinen Stapel Wäsche und ein frisches Handtuch von der Kommode im Eingangsbereich und verschwand sofort im Badezimmer. Während ich das Wasser anstellte, hörte ich leises Geflüster. Unter anderem auch meinen Namen.
Hätten sie ihn nicht wenigstens durch das finnische Wort für „Mädchen" ersetzen können?
„I can hear you!", rief ich laut. Sofort verstummten die Stimmen.
Entweder spielten sie nun stille Post oder sie hatten sich in das andere Zimmer verzogen.
Letzteres hielt ich für wahrscheinlicher.
Nachdem ich mich ausgezogen hatte, stieg ich in die Wanne und zog den weißen Duschvorhang zu. Das warme Wasser prasselte auf meinen Körper nieder und ließ mich für einen Moment vergessen, was gerade passiert war. Dieser ewige Gefühlswirrwarr ging mir tierisch auf den Wecker. Zu Hause –in Düsseldorf- wartete jemand mit ernsten Absichten auf mich.
Und ich konnte nicht leugnen, dass ich ein gewisses Kribbeln im Bauch verspürte, wenn ich an Tomás dachte.
Plötzlich flog die Badezimmertür auf. Ich erschrak und streckte meinen nassen Kopf aus der Dusche.
Samu stand vor mir und hielt mir mein Handy entgegen.
Offensichtlich hatte ich auch das in meinem Zimmer vergessen.
„Die ganze Zeit deine Handy klingelt."
„Ich hab nasse Hände, geh doch ran", meinte ich und wedelte mit meinem Händen.
„Es ist die portugalboy", knirschte Samu.
„Geh ran und mach laut", befahl ich. Er drückte den grünen Knopf, anschließend den Lautsprecher.
„Emmi?"
„Hi Tomás", sagte ich freundlich.
„Guten Morgen Liebes. Ich wollte dich wecken. Aber anscheinend bin ich dafür zu spät?"
„Ich bin wach und dusche schon, ja."
„Das nächste Mal dusche ich mit!", teilte Tomás selbstsicher mit, woraufhin Samu sich laut räusperte.
Ich kicherte nur wie ein verliebter Teenager.
„You're not alone", offenbarte Samu mit tiefer Stimme in den Hörer.
„Duschst du mit dem Finnen?", fragte Tomás entsetzt.
„Nein nein. Er steht nur hier und hält das Telefon."
„Puh, Gott sei Dank!", meinte Tomás erleichtert und wechselte das Thema, „dein Bruder hat gestern Nachmittag hier angerufen und eine Nachricht für dich hinterlassen."
„Und?"
„Moment, ich habs mir notiert", Tomás kramte, „er sagte mir, dass der Termin für die Hochzeit am 15.05. ist und dass du 'ne Zusage für Antofagasta hast."
„Was?", schrie ich, „Zusage? Oh mein Gott!"
„Daniel sagte noch, dass sich der Mann am Telefon entschuldigt hat, weil die Zusage so spät kam. Was genau ist mit Antofagasta, Emma?"
„Ich ruf dich gleich zurück, ja? Ich will jetzt erstmal aus der Dusche", sagte ich euphorisch.
„Ok, bis gleich!"
Samu drückte den roten Hörer, legte mein Handy neben das Waschbecken und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Gibst du mir bitte 'n Handtuch?"
„Was ist mit Chile?", wollte er wissen, ohne auf meine bereits gestellte Frage einzugehen.
„Darf ich mich erst abtrocknen?"
„Nope."
„Samu. Gib mir jetzt so 'n scheiß Handtuch und verzieh dich", stellte ich wütend klar.
„No."
„Boah", stöhnte ich, umwickelte mich mit einem Teil des Duschvorhangs und beugte mich nach vorne, um das frische Handtuch vom Waschbecken zu fingern.
Samu sah zu und schmunzelte triumphierend.
Ich zog den Vorhang wieder zu, rubbelte kurz über meine Haare und band mir das Handtuch um meine Brust. Samu hatte sich mittlerweile gegen das Waschbecken gelehnt.
„Was willst du?"
„Ich will wissen, was ist mit Chile."
„Ich würd euch allen das gerne erzählen."
Samu nickte.
„Dafür müsste ich mich anziehen."
„Oh yeah, sure", lächelte Samu verlegen und verschwand aus dem Badezimmer.
Ich zog mich an und band das Handtuch als Turban um meine feuchten Haare. Als ich aus dem Badezimmer kam, saßen vier Finnen –teilweise noch im Schlafanzug- erwartungsvoll auf den zwei ungemachten Betten.
„I have an assurance for a semester abroad in Chile", ich klatschte freudig in die Hände und lächelte wie ein Honigkuchenpferd.
Die Jungs gaben mir Beifall und jubelten.
„When?", fragte Sami.
„The semester will start in March and ends in July I think."
„So you have to leave us earlier than at the end of February?", warf Raul ein.
Visum beantragen, impfen lassen, Wohnung in Antofagasta suchen, mein WG-Zimmer untervermieten.
Ich überlegte.
„Yes. I can do a lot of things with the internet, but I need to have an inoculation at home. I have to talk to my boss at first. I think I'll leave after the New Year's Eve, at the beginning of January."
„Zwei months", nuschelte Samu in seinen nicht vorhandenen Bart und starrte auf das Bettlaken.
„We'll make it", sagte Riku euphorisch und brach damit das entstandene Schweigen.
Ich grinste.
„Maybe we can have a little leaving-party?", schlug Sami vor.
Alle nickten zustimmend.
„I'll call my boss now", meinte ich, holte mir das Handy aus dem Badezimmer und verschwand im Nachbarzimmer.
Zuerst rief ich bei Universal Music in Berlin an. Mein Vorgesetzter stimmte meinem Vorhaben, das Praktikum früher zu beenden, zu, war aber tief getroffen, weil die Zusammenarbeit zwischen der Band und mir so reibungslos funktionierte. Danach versuchte ich Kontakt zu Jukka aufzunehmen. Weil er aber nicht abnahm, schrieb ich ihm eine Nachricht. Anschließend bestätigte ich –mehr oder weniger- den Hochzeitstermin von Daniel und Julian. Mein Plan war, für ungefähr zwei Wochen nach Hause zu kommen, wenn die beiden heirateten. Zu guter Letzt telefonierte ich mit Tomás. Wir quatschten nur kurz, weil ich mich immer noch nicht um die Rückkehr nach Düsseldorf gekümmerte hatte.
Nachdem wir aufgelegt hatten, versuchte ich günstige Zugfahrkarten nach Düsseldorf zu ergattern. Und tatsächlich konnte ich fünf Tickets zu einem Preis von jeweils 91 Euro bekommen. Allerdings am Abend anstatt morgen früh.
„What are you doing?", fragte Raul, als er die Tür einen Spalt öffnete.
„Booking", strahlte ich, „today evening."
Er setzte sich neben mich.
„Today evening?"
„Tommorrow was too expensive."
„How?", fragte Raul und legte den Kopf schief.
„149 Euro per person."
„Wow."
Raul starrte auf mein Smartphone und machte große Augen, als er die Uhrzeit sah.
„More than five hours? Who wants to drive w..."
„Me", ließ Samu durchblicken und lehnte mit den Händen in den Hosentaschen im Türrahmen. Wir hatten nicht bemerkt, dass er reingekommen war.
Raul grinste verlegen, stand auf und bot Samu seinen Sitzplatz an.
„Maybe you have to talk", meinte er und schloss die Tür hinter sich.
„Heute Abend fahren wir zurück", sagte ich ohne aufzusehen.
„Warum?"
„Morgen wäre teurer gewesen."
Samu nahm neben mir Platz und setzte sich in den Schneidersitz.
„Sorry for that."
„Ich kenne es von dir nur so."
„Emma."
„Nein, Samu", ich blickte auf, „genau deswegen verbringe ich gerne Zeit mit Tomás. Ich weiß bei dir einfach nie wo vorne und hinten ist."
„Maybe ich weiß die selber nicht", gab Samu zu.
„Dann küss mich nicht und sag dann, dass ich es niemandem sagen soll."
„Did you tell them?", wollte er wissen und zeigte mit dem Daumen auf die verschlossene Verbindungstür.
„Nein. Riku hat mich heulend abgefangen und sich zusammengereimt, was passiert ist."
Samu ballte die Faust.
„Und jetzt ist es dir peinlich?"
„Maybe I don't know what I really want."
„Das glaub ich auch", ich sperrte die Tasten des Smartphones und stand auf, „um 18.45 Uhr ist Abfahrt am Bahnhof. Es wäre schön, wenn wir eine Stunde vorher hier los fahren könnten. Kannst du das den Jungs sagen?"
Er nickte.
„Schön. Dann pack ich jetzt meine Tasche und wir sehen uns heute Abend."


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