He perdido mi corazón

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„Liebes Tagebuch", begann ich und überlegte bereits, welches der vielen Bilder meinen ersten richtigen Eintrag abrunden sollte. Ich hatte mich immer wieder zwingen müssen, endlich etwas Vernünftiges auf das Papier zu bringen. Leider kam ich nie weiter als „Liebes Tagebuch!" oder „¡Hola chicos!", weil mich meine spanischen Mitbewohner immer wieder in ihre abendlichen Trinkgelage involvierten. Éric, Rocío und Inés kamen aus einem Vorort von Madrid und studierten Geologie an der Universidad de Chile. Das eigentliche Leben spielte sich hier hauptsächlich am Campus ab. Ich besuchte zusammen mit Inés eine Arbeitsgemeinschaft für chilenisches Schauspiel und einen Zumba-Fitnesskurs, der einmal wöchentlich abends am Strand stattfand.
„Ich schreibe für euch, Jungs. In der Hoffnung, dass Samu irgendwann so viel Deutsch versteht, dass er euch all das hier übersetzen kann", krakelte ich und blätterte verträumt auf die letzten Seiten zurück. Ich hatte das letzte Mal vor einigen Wochen Kontakt zu meinen finnischen Jungs. Wir beschränkten uns beim Chatten auf ein wenig Smalltalk und beendeten die Konversation meistens nach einigen Minuten wieder. Tomás hingegen meldete sich –trotz der fünfstündigen Zeitverschiebung- jeden Abend. Er hatte sich sogar eine Webcam gekauft, damit wir uns gegenseitig sehen konnten.
Auf meinem Kugelschreiber kauend starrte ich auf die Uhr. Meine spanischen Kumpane waren –wie jeden Abend- ausgeflogen, so dass ich die an der Küste liegende Fünf-Zimmer-Wohnung für mich alleine hatte. Die Nachbarn über uns waren ebenfalls Austauschstudenten, allerdings legten sie Wert darauf, immer nur unter sich zu bleiben. Ihre Musik dröhnte an meine Ohren. Jeden Abend spielten sie die gleiche Playlist.
Immer und immer wieder.
„He perdido mi corazón" schnörkelte ich, als ich die Lyrics eines der Lieder erkannte und kritzelte gedankenverloren vor mich. Einige Zeit später bemerkte ich, wie aus meinem Gekritzel ganz deutlich ein „S" wurde. Verstört schloss ich das Tagebuch und ging schnurstracks in die Küche, um mich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen. Ich öffnete den alten Kühlschrank und genehmigte mir einen Fruchtjoghurt eines deutschen Unternehmens. Das Einzige, was ich ohne schlechtes Gewissen essen konnte. Mein Magen rebellierte bei dem Gedanken an Fleischeintopf, gebackene Innereien und getrocknetem Pferdefleisch. Stehend löffelte ich den letzten Rest des Pfirsich-Maracujajoghurts und vernahm den üblichen Skypeton, wenn jemand anrief. Sofort ließ ich Löffel und Becher in die Spüle fallen und eilte mit nackten Füßen über den kalten Steinboden.
„Schweinchen, bist du da?", hörte ich meine beste Freundin Marlen sagen.
Die Verbindung raschelte.
„Ach nein. Wer bist du denn?", fragte ich schnippisch.
„Sorry, dass ich mich nicht gemeldet hab. Stör ich?"
„Es ist mittlerweile Mitte März, Marlen."
„Ja und?"
Nachdem sie mir an meinem Geburtstag im Oktober versprochen hatte, Ende des Jahres vorbeizukommen, es nicht getan hatte, bekam ich in unregelmäßigen Abständen Kurznachrichten mit Entschuldigungen für ihre ständige Abwesenheit.
„Wie kommts, dass du Zeit hast?"
„Ich bin gerade zu Hause angekommen und war erstaunt, als Daniel mir gesagt hat, dass du in Chile bist. Was machst du da? Ich dachte, du arbeitest bei dieser finnischen Band?"
„Wenn ich dir eine SMS schicke, in der steht, dass ich den Platz für das Auslandssemester bekommen habe, dann hätte bei dir ja was klingeln können."
„Das habe ich wohl überlesen. Das tut mir wirklich leid", sagte sie und schickte mir eine Webcamanfrage. Mit rollenden Augen nahm ich sie an wartete, bis das Bild scharf wurde.
„Wie geil siehst du denn aus?", fragte sie und fuhr sich durch ihren honigblond gefärbten Pixiecut à la Anne Hathaway, den sie schon seit mehreren Jahren hegte und pflegte, „du siehst total erholt aus."
„Schön wärs!", lachte ich unsicher und legte meine Haare in den Nacken.
„Tut mir wirklich leid. Ich war so eingespannt, hab sogar noch verlängert und bin jetzt auch endlich wieder zu Hause. Das ist ein Stress, ich sag es dir", nervös spielte sie an ihrem Nasenpiercing, „hat sich da eigentlich was mit Samu ergeben?"
Ich hob die Hand, um Leni zu signalisieren, dass sie warten sollte und nahm das Buch vom Bett. Anschließend setzte ich mich wieder auf den Hocker und hielt ihr das Geschenk der Jungs entgegen.
„Was ist das?"
„Die Jungs haben mir zum Abschied 'n Reisetagebuch geschenkt", ich blätterte durch die Seiten und zeigte Leni einzelne Bilder und Sprüche, „ich soll das weiterführen."
„Das ist ja niedlich", gespannt rückte Leni näher an den Monitor, „und ihr hattet auch was?"
„Nee, hatten wir nicht. Ich bin seit November mit Tomás zusammen. Da ist nicht so viel Platz für jemand anderen", log ich überzeugend.
Meine Gedanken kreisten fast ausschließlich um meinen Finnen.
„Ah ok. Dann kann ich dich dazu beglückwünschen, oder?"
„Das kannst du, ja", grinste ich und zeigte Leni die Kette.
„Von PANDORA?"
„Die Kette und der Koffer sind von Samu, die Glasperle von Tomás."
„Wieso ist die Kette nicht von Tomás?", grinste sie keck.
„Weil Samu mir die zum Geburtstag geschenkt hat."
„Aber dieser Tomás ist schon der Typ, mit dem du schläfst, ja? Du hast da nicht irgendwas verwechselt?"
„Nein, wieso?"
„Weil du bis vor kurzem noch in Samu verliebt warst und mir jetzt sagst, dass du mit Tomás zusammen bist? Da stimmt doch was nicht", reimte sich Leni zusammen.
In einem zwanzigminütigen Vortrag meinerseits rollte ich für Leni mein Leben in den letzten Monaten von hinten auf. Mit allen Details, an die ich mich noch erinnern konnte. Dabei erwähnte ich meinen Lieblingsfinnen öfter als Tomás.
„Das ist strange, oder? Immerhin ist der Typ 38 Jahre alt. Meinst du, dass das funktionieren würde?"
„Davon redet gar keiner. Ich will ihn ja nicht heiraten oder so. Aber er reizt mich schon sehr."
„Was willst du machen, wenn du wiederkommst? Nochmal neu anfangen? Das wird nicht funktionieren, Emma."
Nachdenklich sah ich mich in meinem spartanisch eingerichteten Zimmer um.
„Emma. Das wird nicht klappen", wiederholte Marlen, „du wirst –wenn Tomás in den nächsten Monaten nicht stirbt, Gott bewahre- immer noch mit ihm zusammen sein, wenn du im Mai zur Hochzeit kommst. Selbst er wird dich unweigerlich an die Zeit mit den finnischen Jungs erinnern. Willst du dich dann trennen?"
„Was redest du da für ein Unsinn?"
„Das frag ich dich, Schweinchen", sagte Leni ernst, „du schläfst seit Monaten mit dem armen Tomás, der dich aufrichtig liebt und du denkst nur an Samu."
„Das hab ich nicht gesagt."
„Du hast gesagt, dass du ihn im Auto gerne geküsst hättest. Erklär mir, was ich daran falsch interpretiert hab."
„Ach scheiße!", brüllte ich und haute mit der Faust auf den Tisch.
„Ja, scheiße ist das. Du musst dir über deine Gefühle klar werden. Meinst du, dieser Samu meint das ernst, dass er dich liebt? Der könnte jede haben."
„Das ist lieb, danke", sagte ich ironisch und schüttelte den Kopf, „er ist nicht irgendjemand für mich."
„Bist du vielleicht durch seinen Erfolg geblendet?"
„Wieso?"
„Na weil du genauso gut ein Groupie sein könntest. Der hat doch bestimmt an jedem Finger zehn Frauen, die er haben könnte."
„Und dann ist es paradox, dass er sich in mich verliebt?", wollte ich wissen und starrte auf in die Kamera, als würde Leni genau vor mir sitzen.
„Um ehrlich zu sein", sie druckste, „ja."
„Danke, dass du so unterstützend bist."
„Ich mein das nicht böse, aber guck dir mal seine Exfreundin an. Die ist das genaue Gegenteil von dir. Sie ist groß, du bist klein, sie ist blond, du bist rothaarig, sie ist mega schlank und d..."
Wütend unterbrach ich sie.
„Und ich bin was? Fett? Tut mir leid, dass ich kein Hungerhaken bin und bei knapp 1,72m 66 Kilo wiege. Ich hab nun mal Arsch und Titten."
„Schweinchen, was ich sagen will, is..."
„Ist mir scheißegal, was du sagen willst. Ich hab dir das nicht erzählt, um von dir eine Schelle zu kassieren. Mir gehts schlecht damit. Ja, ich bin mit Tomás zusammen und ja, ich hab ihn gern und vermisse ihn. Aber trotzdem drängt sich Samu immer wieder in meine Gedanken. Ich kann das nicht abstellen."
„Leider kann ich dir bei diesem Problem gerade nicht helfen", meinte Leni und stopfte sich eine Hand Erdnussflips in den Mund.
„Iss du das mal. Ich bin ja eh zu fett dafür."
„Schweinchen. Das war nicht so gemeint", mampfte sie, „aber du kannst nicht abstreiten, dass sie das genaue Gegenteil von dir ist."
„Vielleicht braucht er Abwechslung."
„Vielleicht bist du aber nichts weiter als ein Appetitanreger."
„Das weißt du ja nicht."
„Aber du auch nicht, Emma! Außerdem hast du mir gerade gesagt, dass du Tomás gern hast. Wenn du das sicher weißt, dann ist alles in Ordnung. Ich würd dich so gerne mal in den Arm nehmen."
„Ich bekomm das schon hin", winkte ich ab, „du warst ja die letzten Monate eh nicht so präsent in meinem Leben", feixte ich.
„Gott. Ich hab gesagt, dass mir das leid tut."
„Weiß ich doch. War nur 'n Witz", grinste ich und wechselte das Thema, „sag mal. Gab es einen Grund, warum du angerufen hast?"
Leni überlegte kurz und riss dann die Augen auf.
„Ja, den gabs tatsächlich! Einmal wollte ich hören, wie es dir gut und dann wollte ich dir noch sagen, dass ich Karten für Andreas Gabalier hab und i..."
„Nein", unterbrach ich Leni.
„Lass mich ausreden!"
„Auf keinen Fall. Nie im Leben!"
„Emma!"
Ich blies die Wangen auf und legte die Hand vor den Mund.
„Jetzt hör mal auf."
„Ich mag seine Musik nicht."
„Jaja. Aber zu „Zuckerpuppen" gehst du ab wie Schmidts Katze."
„Das ist eine Ausnahme, weil das wirklich gut ist."
„Dann komm mit und ich überzeug dich davon, dass er allgemein gut ist."
„Nein."
„Ich war auch mit dir bei diesem doofen Jazzkonzert. Danach hast selbst du gesagt, dass es dir nicht gefallen hat."
„Nein."
„Emma Lovisa Holmberg!"
„Nein, Marlen. Keine Chance."
„Ich hab die Karten geschenkt bekommen. Komm schon. Ich frag dich auch nie wieder."
Ich verdrehte die Augen und gab nach.
„Wann soll das sein?", fragte ich gelangweilt.
„Schön, dass du fragst", lächelte Leni, rieb sich die von Erdnussflips beschmutzten Hände und suchte auf ihrem Schreibtisch nach einem Kalender.
„Hallo?"
„Ich suche noch, warte!"
Ungeduldig tippelte ich mit meinen Fingernägeln auf dem Schreibtisch.
„Mitte Juli in Oberhausen!" rief sie, „ist Open Air."
„Da wollen wir mal hoffen, dass es nicht regnet", sagte ich kühl.
„Emma!"
„Ich komm Anfang Juli zurück um Tomás zu überraschen. Der hat da Geburtstag. Sag mir mal noch den genauen Tag, wenn du den weißt, ja?"
„Ich sims ihn dir, versprochen. Was machst du jetzt noch?"
„Ich werd in meinem Büchlein weiterschreiben und dann noch Literatur recherchieren."
„Dann mach das. Kann ich mich melden?"
„Jederzeit. Vergiss die Zeitverschiebung aber nicht."
„Wie spät ists bei dir?"
Ich starrte auf die Uhr am unteren Bildschirmrand.
„23.47 Uhr."
„Dann sind wir fünf Stunden zurück. Das ist ja krass. Ich telefoniere gerade in die Vergangenheit", grinste Leni.
„Das erlebst du auch nicht täglich, oder?"
„Sicher nicht, nein", lachte sie und begann zu winken, „denk mal nicht so viel an den Surferboy, Emmi. Ich glaub, dass er dir nur das Herz brechen würde."
„Vielleicht sollte ich dir sagen, dass ich mit dem Surferboy bei der Hochzeit aufschlage. Tomás wollte nicht und arbeitet an dem Tag."
„Das solltest du mir vielleicht wirklich sagen", lachte sie unsicher und winkte erneut.
„Schweinchen?", fragte ich, bevor sie das Gespräch beendete.
„Weißt du, ob mittlerweile jemand in meinem Zimmer wohnt? Daniel wollte nochmal versuchen, es zu vermieten."
„Tut mir leid", Leni schüttelte den Kopf, „soweit ich weiß, konnte er bisher noch niemanden finden."
„Hm", druckste ich.
„Hab einen schönen Abend, ja? Wenn sich was ergibt, sag ich dir Bescheid", grinste sie und beendete das Gespräch.
Frustriert schloss ich den Laptop und ließ mich auf mein unbequemes Klappbett fallen, um einige Minuten später dem Land der Träume einen Besuch abzustatten.


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