Ich fühlte mich wie eine Schmetterlingsnudel

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Die selbstgemischten Cocktails auf Lenis Vorgeburtstagsparty hatten es in sich. Bereits nach zwei Tequila Sunrise war ich so angeheitert, dass ich nicht mehr aufrecht stehen konnte. Ich taumelte etwas unsicher zur Couch, ehe Leni sich vor mich hockte und mir ein Pinnchen Wodka hinhielt.
„Auf deine Scheinfreiheit!", sagte sie laut in mein Ohr, „wie sagt man in Finnland? Kipp es?"
„Kippis", verbesserte ich sie und schenkte ihr ein müdes Lächeln.
Den ganzen Nachmittag hatte ich keinen einzigen Gedanken an Samu verschwendet. Und plötzlich war er wieder allgegenwärtig.
Ich hatte mich über Jobs beim Radio informiert, bevor ich mich innerhalb von zwei Stunden vom hässlichen Entlein am Morgen zum wunderschönen Schwan für die Feier am Abend verwandelt hatte.
„Was ist los?", fragte Leni.
„Ich bin nur müde und erkältet. Es ist alles gut", überspielte ich kichernd.
„Wirklich?"
„Wirklich", ich stieß mit ihr an, „auf dich und dein Praktikum auf Fehmarn."
„Und auf deine Scheinfreiheit."
„Und auf meine Scheinfreiheit", lallte ich und kippte den Shot herunter.
Laut und mit angewiderten Gesichtern knallten wir die Schnapsgläser auf den Glastisch.
„Ich geh mal wieder rüber zu Marius, ja?", Leni tätschelte mir die Schulter, „ich würd den gerne heute Nacht abschleppen."
„Jaja, schlepp du mal", grinste ich.
„Du hättest auch jemanden mitbringen können, Emma!", sie streckte mir die Zunge raus, „das weißt du ganz genau."
„Hätte, hätte Fahrradkette."
Leni beugte sich zu mir herunter.
„Wenn du es nicht mal wieder verbockt hättest."
„Danke Schweinchen", ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange, „ich komm zurecht."
Sie winkte ab und verschwand in der Küche.
Viele der Anwesenden waren langweilige Biologiestudenten. Keine Ahnung, wie Leni sich unter diesen wohlfühlen konnte. Vielleicht, weil es Phasen gab, in denen sie sich mindestens genau so peinlich verhielt.
Neben mir saßen zwei dieser Art.
Sie etwa Mitte 20, Nerdbrille, strenger Bibliothekarinnendutt. Er Anfang 20, Pickel, lange Haare, vermutlich Metalfan. Hauptthema –soweit ich es verstanden hatte- der Unterschied zwischen Meiose und Mitose bei Pflanzen.
Irgendwann begannen meine Ohren metaphorisch zu bluten und ich flüchtete vor dem Redeschwall aus Telophase, Prophase und Metaphase auf die Toilette.
Ich schloss hinter mir ab und überprüfte mein Aussehen im Spiegel. Dafür, dass mir schwindelig war, meine Erkältung gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte und ich wahnsinnigen Liebeskummer hatte, sah ich noch überdurchschnittlich gut aus.
„Emma?", mein Bruder hämmerte gegen die Tür.
Vor Schreck ließ ich meine beigefarbene Clutch in das Waschbecken fallen.
„Spinnst du?", brabbelte ich und öffnete, „ich hab mich richtig erschrocken, du blöder Penner!"
„Ich muss so pissen, geh mal bitte", nuschelte er und schob mich noch während er seine Hose öffnete zur Tür hinaus.
Keine zwei Minuten später winkte Daniel mich wieder hinein.
„Ich bin übelst voll, Lov", meinte er und lehnte seinen Kopf an meine Schulter, „ich weiß nicht, wo Juli ist. Bitte hilf mir."
„Du bist doch mit ihm gekommen", lachte ich betrunken und streichelte über seinen Kopf.
„Aber jetzt ist er weg."
„Die Wohnung ist nicht groß, wo soll er sein?"
„Ich weiß nicht", Daniel zuckte mit den Achseln und schob seine Unterlippe nach vorne.
„Warst du schon bei Marius?"
„Wer?"
„Marius. Groß, schwarze Haare?"
„Das ist der in der Kirche, oder?"
„Kirche?", meinte ich verstört.
„Küche! Ich mein Küche!"
„Also warst du schon da?"
„Nein", Daniel hob den Kopf und blinzelte mich an, „ich war schon überall!"
„Außer in der Küche, oder?", unweigerlich musste ich lachen.
„Ja!", nörgelte er und umklammerte mich, „du bist die beste Schwester der Welt!"
„Alles klar", grinste ich und setzte Daniel auf die Toilette.
„Ich hol dir ein Wasser, ok?"
„Hier gibt es auch Wasser!", sofort stellte er den Wasserhahn an und hängte sich mit dem Mund drunter.
Ich schüttelte den Kopf, verließ das Bad und setzte mich im Wohnzimmer erneut auf die Couch, um die herumsitzenden Nerds zu beobachten.
„Was ist los, hm?", Julian stellte mir ein Pinnchen Kaffee-Sahne-Likör vor die Nase, „du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter."
„Alles gut", grinste ich, trank den Shot und spülte mit seinem Bier nach, „mir geht es gut."
„Das kann ich sehen", er nahm mir die Flasche weg.
„Mein Bruder sucht dich", versuchte ich abzulenken.
„Lenk nicht ab."
„Es ist alles gut."
„Wo ist der Finne heute Abend?", fragte er explizit nach.
„Was hat Daniel dir schon wieder erzählt?"
„Och", Julian grinste schelmisch, „nur, dass er euch zum Flughafen gefahren hat und Samu nicht rausrücken wollte, was gelaufen ist. Also sag. Wo ist er? Hast du ihn vergrault?"
„So ähnlich", gab ich zu und schlug die Beine übereinander.
„Seid ihr kein Paar?"
„Ich weiß es nicht, Jules. Ich weiß gar nichts mehr", brach ich aus und vergrub den Kopf in meinen Händen.
„Hast du dich mal gefragt, warum er so ist, wie er ist?"
Ich zuckte mit den Schultern und verstand nicht.
„Ich hab euch nur ansatzweise mitbekommen, aber dafür, dass du angeblich unsterblich verknallt in ihn bist, reagiert du viel zu wenig auf ihn."
„Wie meinst du das?", nuschelte ich.
Julian legte die Hand auf meine Schulter.
„Als wir abends Essen bestellt haben, als wir deine neuen Möbel aufgebaut haben. Erinnerst du dich?"
Ich nickte.
„Samu hat auf jede deiner Bewegung reagiert. Wenn du dich am Kopf gekratzt hast, hat er sich anders hingesetzt. Hast du die Beine überschlagen, hat er die Arme vor der Brust verschränkt. Aber wenn er sich bewegt ha..."
„Das ist doch Unsinn", unterbrach ich ihn hob den Kopf, „du glaubst doch nicht wirklich, dass das ein Kriterium ist, um jemanden gern zu haben."
„Ich denke schon, dass es in einer Partnerschaft üblich ist, auf den Partner zu reagieren, doch", erläuterte Jules, „du hingegen hast nichts gemacht, wenn Samu sich anders hingesetzt hat."
„Das muss ich doch auch nicht?", ich nahm wieder einen Schluck aus Julians Bierflasche.
„Das passiert unbewusst!"
„Du spinnst ja", winkte ich ab.
„Warum sollte er nett zu dir sein, wenn du die ganze Zeit über ein unausstehlicher Mensch bist?", meinte er forsch.
Ich wendete mich von Julian ab und schaute im Wohnzimmer umher. Die ersten Alkoholleichen lagen bereits in den Ecken Lenis kleiner Wohnung und hielten ihre Köpfe in die Händen gestemmt.
„Warum sollte er, hm?", Julian stieß mich an.
„Ich behandel ihn doch nicht schlecht."
Er sah mich ironisch an.
„Wieso ist er nicht hier, wenn ihr so verknallt seid?"
„Weil ich ihn vergrault habe, hab ich doch gesagt."
„Und wieso?"
„Weil ich ein unausstehlicher Mensch bin?", fragte ich leise.
„Genau", lachte Julian und nahm mich in den Arm, „krieg das hin, ehrlich. Wenn du ihn so gern hast, wie du sagst, dann solltest du ganz dringend irgendetwas unternehmen."
„Danke", nuschelte ich an seiner Schulter, „kümmer dich mal um meinen besoffenen Bruder. Er hängt vermutlich immer noch unter dem Wasserhahn und trinkt."
„Der braucht weniger Hilfe als du", schmunzelte er neckisch und ließ mich alleine auf der Couch zurück.


Nachdem ich noch einige Zeit alleine auf der Couch gesessen hatte, verabschiedete ich mich ziemlich zügig von Leni und ihren Kommilitonen. Meine Erkältung war immer noch nicht ausgestanden und schien langsam aber sicher wieder schlimmer zu werden.
Danke Finnland!
Das Auto ließ ich auf Grund des Alkoholkonsums vor Marlens Haustür stehen und entschied mich stattdessen für den öffentlichen Nahverkehr. Gerade als ich aus dem Nachtbusstieg, setzte ein Platzregen ein und durchnässte mich von Kopf bis Fuß. Auf dem Weg peitschten mir einzelne Haarsträhnen ins Gesicht, während die Blitze über mir immer greller wurden. Als ich die Tür aufschloss, vernahm ich das erlösende Krachen eines lauten Donners; ein Gewitter schien aufzuziehen.
Die Eingangstür fiel ins Schloss, als ich bereits im Wohnzimmer stand und die Rolländen herunter ließ. Anschließend setzte ich Teewasser auf und zog mich noch auf dem Weg ins Badezimmer aus. Ich stellte die Dusche an, warf die nassen Sachen auf den Toilettensitz und holte einen neuen Schlafanzug aus dem Kleiderschrank.
Modell Spaghettiflecken.
Danach war mir.
Ich fühlte mich wie eine alte, labberige, ungeliebte, mit Wasser vollgesogene Schmetterlingsnudel.
Wenigstens Schmetterling. Oder vielleicht doch Motte? Wohl eher Motte.


Nach dem Duschen cremte ich mich ein, streifte den Spaghettipyjama über und setzte mich mit einer Wolldecke und dem Laptop auf dem Schoß auf das Sofa.
Einige Zeit klickte ich mich durch das Internet. Las mich –soweit es mir in einem Zustand möglich war- durch sämtliche Boulevardblätter und Tageszeitungen.
Auf der Suche nach Neuigkeiten.
Vielleicht sogar auf der Suche nach Neuigkeiten über Samu und die Jungs.
Vorrangig Samu.
Ich nippte an meinem Tee, ehe ich unfreiwillig einen Blick auf den Türrahmen warf.
Follow your heart.
„Jetzt mach ich was ganz verrücktes", sagte ich zu mir selbst, stellte die Tasse auf den Tisch und suchte das Regal nach einer der Sunrise Avenue-CDs ab, die ich mir letztes Jahr für das Praktikum gekauft hatte und schmiss sie in das Laufwerk.
Ich erschauderte, als Samus Stimme an mein Ohr drang. Fast so, als würde er neben mir sitzen.
Ich beugte mich über den Laptop, der auf dem Tisch stand und besuchte eines der vielen Flug- und Reisevergleichsportalen.

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