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Ich schlucke und hole tief Luft. Nur noch eine Stunde. Kyle liest irgendwelche Bücher und streicht sich gedankenverloren über seine Haare. Ich stehe schon seit Stunden auf dem selben Platz und rühre mich nicht. Ihn scheint meine Existenz nicht zu interessieren. Ich blicke mir um und pfeife vor mich hin. Er zuckt zusammen und sein Kopf schnellt hoch. Er starrt mich erschrocken an.
Ich muss lachen. Er wirft mir einen wütenden Blick zu. Wieder schweigen wir. Gott, dieses Schweigen bringt mich noch um.
"Wieso hast du dich angemeldet?", frage ich.
Er beachtet mich nicht weiter und liest wieder. Aber ich bin eine Person, die nicht wirklich auf solche Aussagen wie: "Lass mich in Ruhe", achtet. Genauso wenig achte ich darauf, dass er mich eigentlich ignorieren will.
"Vielleicht hat deine Freundin Schluss gemacht und du hast erfahren, dass diese Tussi von nebenan sich auch angemeldet hat?", fange ich an zu raten.
Er zeigt keine Reaktion und liest einfach weiter.
"Oder du willst Weg von deinen Eltern, weil..."
"Hör auf, du nervst!", unterbricht er mich.
Ich zucke eingeschnappt mit den Schultern und blicke mir um. Ein brauner Koffer liegt auf dem Boden. Kyle blickt immer noch in sein Buch. Ich nutze die Chance und gehe auf ihn zu.
Langsam, darauf geachtet ja kein Geräusch von mir zu geben, öffne ich die Schnallen aus Eisen und hebe den Deckel an.
Die Leseratte bewegt sich noch immer nicht. Schnell durchwühle ich den Koffer. Alles nur Klamotten.
Ich gebe kein Laut von mir, als ich mich mit der Schere, die ich übersehen habe, in den Finger steche. Das muss man dann mal nähen. Doch für Wehleiden habe ich keine Zeit.
Endlich. Ich habe gefunden, was ich gesucht habe. Ich drehe leicht den Kopf zu Kyle, der noch immer liest, und stecke seine Geldbörse ein.
Als ich den Koffer wieder schließe, zuckt er beim metallischen Geräusch zusammen. Er sieht mich an und wirkt plötzlich nervös an.
"Komm doch zu mir", sagt er leise und fährt sich immer nervöser durchs Haar.
Eigentlich habe ich eine andere Art von Bosheit erwartet, doch ich gehe zu ihm. Er rutscht und ich setze mich neben ihn.
"Was?", frage ich.
Er sieht sich schnell um. "Hast du den Koffer geöffnet?", fragt er hastig.
Ich schüttle den Kopf. Erleichtert seufzt er und sieht mich dann wütend an. "Was hast du dir bloß dabei gedacht?"
Ooh, jetzt wird Jennifer also wütend. Bevor ihr fragt! Ja, ich habe ihn zu Jennifer umgetauft.
Er braucht das aber nicht zu wissen. "Nichts", gebe ich barsch zurück. "Mir war langweilig! Ich habe seit Stunden nichts zu machen!"
Er lacht wütend auf. "Natürlich, und dann fällt dir nichts besseres ein, als in meinen Koffer herum zu schnüffeln, oder was?"
"Ja, wie soll mir den etwas besseres einfallen, wenn du auch nichts zu tun hast, abgesehen von lesen?"
Einen Augenblick lang starrt er mich einfach nur an, bevor er den Kopf einzieht und nach seinem Buch greift.
Unfähiger Feigling!
Ich schnaube leise. Schließlich hole ich Luft. "Hast du Musik?", frage ich.
Er schließt nervt die Augen. "Du nervst!"
"Hör auf dich zu wiederholen ", bringe ich ihn zum Schweigen.
Er seufzt und sieht mich an. Ich stelle mich vor ihn.
"Hast. Du. Musik?", frage ich.
Er nickt und ich lächle triumphierend. "Wo?"
Er deutet auf die Ecke und im Stoffhaufen erkenne ich eine pinke Box. Ich gebe ihm mit der Hand ein Zeichen. Er gibt mir wiederwillig sein iPhone und ich tänzle davon. Ich knacke den Code nach dem zweiten Versuch. Ich gehe auf das Internet und suche mir eine alte Version von ,,Se fue,, heraus. Ich verbinde die beiden Geräte miteinander und stelle auf laut.
Kyle verzieht beim ersten Ton das Gesicht. Natürlich, wer mag schon alte Salsa? Niemand abgesehen von mir!
Ich bewege mich leicht und spüre seine Blicke auf mir. Ich bin kurz davor ihm den Mittelfinger zu zeigen. Doch ich beherrsche mich.
Ich bewege mich vor und zurück. Ich liebe diese Musik. Alles dreht sich und ich verschwinde in meiner Welt. Es gibt nichts mehr als mich.
Ella se fue, se fue, se fue
I no Volvió, volvió, volvió
Ich halte inne, als ich bemerke, wie gebannt Kyle mich anstarrt. Ich verziehe die Lippen zu einem Grinsen. Jaja, er will doch nichts mit einer zehn Jahr jüngerem Mädchen anfangen!
Kyle bemerkt wohl selbst, was genau er macht und dreht den Kopf. Ich sehe, wie seine Lippen sich stumm bewegen. Er flucht. Ich kann mich nicht mehr halten vor Lachen. Er wirft mir einen bösen Blick zu und liest weiter, während ich Musik höre.

City of DevilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt