Auflösung

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Lydia schweigt, sie runzelt ihre Stirn leicht. Ich habe ihr von meinem Aufeinandertreffen mit Caspers Pflegemutter erzählt. 

»Hydra«, flüstert sie leise und irgendwie erkenne ich, dass das was jetzt kommt ganz und gar nicht meinen Gefallen findet. »Es wird Zeit loszulassen. Ich halte es nicht mehr aus. Diese Stille, die unser Haus seit dem Unfall umgibt. Den Hass, den wir alle in unseren Augen tragen, wenn sein Name fällt. Ich will das nicht mehr.«

Stille. Absolutes Schweigen.

Casper hat nicht einmal eine Strafe bekommen, weil man ihm geglaubt hat, dass es ein Unfall war, stattdessen wird er wegen des Alkoholkonsums auf ein Internat für schwer-erziehbare Jugendliche geschickt.

Alles was ich ihm wünsche ist, dass er dort verreckt, weil Lydia, meine Schwester, das Opfer dieser Geschichte, wegen ihm ein Bein verloren hat. Und trotzdem sitzt sie nun hier und redet davon, dass wir loslassen müssen. Dass er unsere Wut nicht wert ist. Ich weiß nicht, ob da die Stärke oder die Schwäche aus ihr spricht. 

Und Casper hat sich nie dazu geäußert. Warum er es mir angetan hat. Und diese betörende Stille ist das Schlimmste. Nicht zu wissen, was man falsch gemacht hat. Es muss mehr gewesen sein, als nur ein Streich, immerhin gab es am Schluss schon wahre Verletztungen. Er hat mein ganzes Leben von einen auf den anderen Tag zerstört.

Und ich weiß nicht wieso. Und wahrscheinlich werde ich es nie erfahren.

Das ist es, was dieses langsame vergehen der Zeit so unerträglich macht. Lydia verschränkt ihre Arme langsam ineinander und starrt auf die Platte unseres Küchentisches. 

»Ich hätte es ahnen können«, beginnt sie vorsichtig. »Als Casper an unsere Schule gekommen ist, vor zwei Jahren, hatte er immer noch starke Probleme, weil er den Tod seiner Familie nicht verkraften konnte. Er wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergegeben und war zwei Mal pro Woche bei einem Psychiater, der versucht hat mit ihm zu reden. Casper hat relativ schnell Freunde gefunden, war aber anfangs noch sehr... ambivalent. Und dann hat er die traurige Seite abgelegt, hat die frustrierte, psychisch labile zurückgelassen. Dachte ich. Nein, das dachten wir alle. Und er war seit Ewigkeiten wieder normal, als er dir den Plan angeboten hat. Und klar, es ist keine Ausrede, dass er dir und mir all das angetan hat, aber wer sind wir, wenn wir nicht vergeben? Verstehe mich nicht falsch. Ich hasse ihn Hydra. Aber ich möchte meine ganze Energie nicht auf jemanden konzentrieren, der nicht daraus lernt. Ich möchte vergeben und nach vorne sehen. Und auch wenn ich ihn nie wieder auch nur auf zwei Kilometer Entfernung in meiner Nähe haben will, so möchte ich dieses Thema abhaken und mich stattdessen darauf konzentrieren wie es weitergeht.«

Eine kurze Pause entsteht. »Hydra, ich vergebe ihm. Auch wenn die Umstände unter denen ich jetzt leben muss wegen ihm scheußlich sind, ich kann mich daran gewöhnen. Und er hat einen Fehler gemacht und ich werde ihn wie gesagt nie mehr wieder sehen wollen, genauso wenig wie Gracen oder Gale oder all seine anderen Freunde. Aber es ist passiert und es wäre nichts unverzeihlicher als ihm diesen Fehler bis in alle Ewigkeiten vorzuhalten, denn dann müsste ich es auch automatisch dir vorhalten, weil du auch bei dem Plan dabei warst. Aber ich habe dir verziehen und ich verzeihe auch ihm.«

Ich sehe sie an, meine Augen treffen ihre, für einen Moment schweigen wir. Die nächsten Worte kommen nur zögernd über meine Lippen, ich bin mir unsicher, ob ich sie aussprechen soll.

»Lydia«, flüstere ich. »Ich weiß nicht, ob ich ihm verzeihen kann.«

Und sie nickt langsam. »Gib dir Zeit. Wenn ich es kann, dann schaffst du es auch. Er hat hier einiges durcheinander gewirbelt, hm?«

Ich nicke langsam. »Zwei Monate sind seit dem Unfall vergangen. Zwei Monate. Es kommt mir vor wie gestern.«

Ich stocke. »Aber das, was mich beinahe noch mehr belastet als der Gedanke, was passiert wäre, wenn ich den Plan nicht angenommen hätte, ist, warum er mir das angetan hat. Wieso..?«

avenged Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt