F I V E

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F I V E | Es vergingen Tage, bis ich so weit war, wieder einigermaßen normal aufzutreten. Es schmerzte noch immer sehr, doch ich war nun in der Lage mich zu wehren, zumindest bei Tageslicht. Diese Tage waren sehr lang gewesen, ich hatte nichts zu tun gehabt und sie hatten sich schrecklich gezogen. 

Natürlich war der mysteriöse Junge nicht mehr wieder aufgetaucht, um nach mir zu sehen. Er hatte mir Essen dagelassen, damit ich überlebte, doch falls ich zerfleischt worden wäre, hätte das auch nichts mehr geändert. Ich verstand ihn nicht, ich konnte ihn nicht verstehen und ich wusste nicht, ob ich jemals dazu in der Lage sein würde, da alles, was er machte, so unvorhersehbar war. Mal war er relativ freundlich, im nächsten Moment bedrohlich und gemein. 

Ich wollte ihm Danke sagen, doch ich wusste nicht, ob er es schweigend annehmen würde, mir zunicken würde oder vollkommen ausrasten würde, weil ich redete. Also ließ ich es sein ihn zu suchen und beschloss, dass ich es spontan entscheiden würde, falls ich ihn in Zukunft noch einmal sah.

Der Grund, warum ich das Dach verließ, war erstens, dass ich mich nicht mehr ganz so sicher hier fühlte wie am Anfang, da ich seit Tagen am gleichen Fleck gesessen hatte, und zweitens, weil mein Essen langsam leer ging. Ich hatte wirklich nicht viel gegessen, ich war trotzdem ununterbrochen hungrig gewesen, aber es war einfach nicht viel hier gewesen. Und ich wusste nicht, wo ich sonst noch Essen organisieren konnte, also musste ich los.

Nachdem ich das Dach heruntergeklettert war, lief ich diesmal in besonderer Vorsicht und langsam humpelnd durch die verlassenen Straßen, suchte in den noch stehenden und stabilen Häusern etwas Essbares, doch finden tat ich nichts. Es war hoffnungslos. Wo fand der Junge dieses Essen bloß? Zumindest die Zutaten musste er doch von irgendwoher haben. Ich wollte nicht schon wieder einen abgerissenen Arm eines Monsters essen. Wer wusste schon, was dort drinnen war?

Der Tag verging viel schneller, als mir lieb war. Mit Bedauern musste ich zusehen, wie die Asche sich verzog und der weiße Himmel sich zügig blutrot färbte, während die Sirene schrill und laut wieder ihre Melodie annahm. Schneller als zuvor lief ich die Straße hinunter, auf der Suche nach einem Dach. Als ich endlich eins gefunden hatte, tat mein Bein höllisch weh, weswegen ich länger brauchte, die Leiter hinaufzukommen. Dann ließ ich mich erschöpft und völlig am Ende am Rand des Gebäudes nieder, ließ die Beine baumeln und beobachtete das Szenario unter mir.

Ein Ding brach aus der Tür, ich wusste nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte. Es war groß und hatte einen noch größeren Kopf, der ein wenig fehl am Platz zu sein schien. Er passte nicht zum Rest des Körpers. Es lief auf zwei Beinen, die Arme reichten bis zum Boden, doch die Körperform war nicht menschlich. Sie war angeschwollen, dick und irgendwie rund.

Wie sehr ich mir wünschte, dass mein Vater recht gehabt hatte, als er sagte, dass Monster nicht existierten. Wenigstens hatte er mit den Monstern unter meinem Bett recht gehabt.

"Da hat wohl jemand ein paar Tage ohne meine Hilfe überlebt.", erklang direkt hinter mir eine spöttische Stimme. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich mich aus reinstem Überlebensinstinkt nach vorne lehnte, weg von der Stimme hinter mir, und dabei mein Gleichgewicht verlor. Im gleichen Moment noch, als hätte er es kommen sehen, packte eine kräftige, warme Hand von hinten nach meinem Shirt, sodass ich ergeben in der Luft hing, direkt vor meinen Augen die 20 Meter Tiefe.

Ich denke, er hätte mich am liebsten noch ein Weilchen so hängen lassen. Wahrscheinlich fand er es ganz amüsierend, wie ich starr vor Angst in die Tiefe blickte, nur darauf wartete, dass er mich losließ oder mein Shirt riss. Meine Jacke hatte ich vorhin noch ausgezogen.

Doch nach zwei Sekunden hob er mich zu meiner Erleichterung wieder aufs Dach, sodass ich festen Boden unter meinen Füßen hatte. Als ich mich noch immer zitternd zu ihm drehte, grinste er nur frech und provozierend zu mir hinunter. Eine Wut packte mich, die nur mein überraschenderweise noch vorhandener Lebensinstinkt zustande bringen konnte. Völlig aufgelöst begann ich, ohne nachzudenken, auf seine steinharte Brust einzuschlagen. "Du verdammtes Arschloch!", brüllte ich außer mir. Was dachte er sich nur? Wieso machte er das ständig? Immer wieder setzte er mich Gefahren aus, nur um mich danach vor dem Tod zu bewahren.

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