T W E N T Y T W O

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T W E N T Y T W O | Seine Aussage beschäftigte mich noch ewig. Er hatte recht, er hätte sich noch immer verpissen können. Das hatte er am Anfang ja auch getan und mich trotzdem immer retten können.

Und jetzt saß ich hier. Ich hatte schon ein Monster ohne Waffe getötet, allein. Ich hatte endlich Ahnung. Er müsste gar nicht hier sein. Doch nun saß er da, immer noch bei mir. Er war großzügiger mit dem Essen geworden. Er hatte mir eine Hose gebracht, aus eigenem Willen und ohne dass ich darum gebeten hätte. Und er hatte sich mir geöffnet. Irgendwie.

Aber wieso er dann so grob war und mir immer wieder diese Sachen an den Kopf warf, das war mir ein Rätsel. Soweit ich mich recht entsinnte, drückte man Zuneigung doch etwas anders aus. Nachdenklich starrte ich in den blutroten Himmel der Nacht, der mit schwarzen Wolken verhangen war.

Die Theorie, dass er mich noch immer für irgendetwas benutzen könnte, um seinen eigenen Arsch zu retten, war noch immer nicht ganz verschwunden. Die Art, wie er sich selbst noch immer über alles stellte, es machte es mir einfach schwer, mir vorzustellen, dass er, wenn es hart auf hart kam, mich nicht für sich selbst opfern würde.

Andererseits kannte er den liebevollen Umgang mit Menschen nicht mehr so gut. Dass er grob wurde, wenn ihm etwas nicht passte, machte wiederum Sinn. Er hatte lange Zeit immer das machen können, was er wollte, und wenn sich nun jemand quer stellte, dann störte es ihn auch. Doch-

Grunzend rieb ich mir über das Gesicht. Es waren zu viele Gedanken. Und ich war müde.

Ich wusste, dass er den Kopf gehoben hatte, denn ich spürte nun seinen intensiven Blick auf mir. "Was ist?", fragte er rau. Erschöpft schüttelte ich den Kopf. "Es ist nichts."

Als ich aufsah, hatte er die Augenbrauen zusammengekniffen. "Klar.", brummte er sarkastisch. Ich seufzte. Sein Blick ließ nicht von mir ab, weswegen ich schließlich den Blickkontakt aufnahm. "Ich denke nach.", erklärte ich schließlich, "über alles."

"Ein kleiner Tipp. Interpretiere nicht zu viel rein. Dann gibt es auch nicht zu viel zu denken."

Ich verdrehte die Augen bei seinen Worten. Er hatte leicht reden. Ich war ein offenes Buch für ihn. Oder ich interessierte ihn recht wenig. In beiden Fällen hatte er es leicht. Er fragte keine Fragen, er redete nicht mit mir, er musste sich keine Gedanken machen. Aber ich kam mit seinen Handlungsweisen nicht klar und sie verwirrten mich.

"Was auch immer.", brummte ich dann etwas genervt. Einerseits hatte er recht und das gab ich nur ungern zu, denn er hatte etwas gesagt und ich sollte nun mal nicht so viel hineininterpretieren. Andererseits legte er es mit seinem Verhalten ja nur darauf an.

Nun war er an der Reihe, die Augen zu verdrehen. "Du bist seltsam.", meinte er.

"Warte, ich bin seltsam? Ich?", lachend verschränkte ich empört die Arme vor der Brust, "ich bin normal. Du bist derjenige, der sich seltsam verhält!"

Augenblicklich verfinsterte sich sein Ausdruck noch ein wenig mehr, seine Augen verdunkelten sich rasch. "Ich verha-"

Schüsse unterbrachen seine Worte, er verstummte. Ich blickte auf. Was war denn? Wieso unterbrach er? Erst einige Momente später ergriff es mich. Schüsse. Monster besaßen keine Waffen. Sie konnten nicht schießen.

Ich sprang auf. "Menschen!", entfuhr es mir, die Aufregung, endlich mal jemand neues zu sehen, konnte ich dabei nicht verstecken. Der Blick des Jungen, den er mir zuwarf, entging mir dabei.

Ich würde endlich wieder jemanden sehen, der normal war! Jemanden wie mich! Ohne groß zu überlegen warf ich mir meinen Rucksack über die Schulter und rannte auf die Leiter zu. Wir mussten dorthin!

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