S I X T E E N

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S I X T E E N | Ein weiterer Tag war vergangen. Wieder einmal saß ich auf einem der Dächer, nun endlich wieder auf einem der flachen, und ließ die Beine vom Rand hinab in die Tiefe baumeln. Unter mir lagen die zertrümmerten Straßen der Nacht, dunkel, aber nicht verlassen.

Erst Schüsse ließen mich zusammenzucken und den Kopf heben. Sie schienen nicht allzu weit weg zu sein und mit einem fokussierten Blick auf die Ferne konnte ich sehen, wie sich die Gegend bei jedem Schuss für eine Millisekunde erhellte. Dann wurde es still, ganz plötzlich. Und im nächsten Moment sah ich ihn rennen.

Er sprintete direkt auf mein Gebäude zu, als hätte er mich gesehen, und er sprintete in solch einer hohen Geschwindigkeit, die ich noch nie gesehen hatte. Schwungvoll und elegant sprang er die ersten Sprossen der Leiter nach oben, dann kletterte er sie zügig herauf. 

Ich machte meinen Rücken gerade und beobachtete ihn. Das war doch kein Zufall mehr, dass er hierher kam, oder etwa doch? Das konnte ich mir einfach nicht mehr vorstellen, dass er zufällig auf das Dach gekommen war, auf dem ich schon eine Zeit lang saß. Er verwirrte mich so. War nicht er vorhin vor mir weggelaufen, weil Alleinsein besser für ihn war?

Erst, als ein lautes 'Peng' ertönte, richtete ich wieder meine volle Aufmerksamkeit auf ihn. Er war fast ganz oben angekommen, doch ich merkte schnell, wie sich seine Finger um die letzten Sprossen verkrampft und sich herausstechende Adern auf seinen Unterarmen gebildet hatten, während seine Füße in der Luft baumelten. Die Sprossen hatten unter ihm nachgegeben. 

Ich wusste nicht, was in diesem Moment inmich fuhr, ob es mein menschlicher Trieb war, meinen Mitmenschen zu helfen oder was für mich dabei heraus sprang, doch ohne dass ich es bemerkte oder mich bewusst dafür entschied war ich aufgesprungen und griff nach seinen Händen, um ihm über die Dachkante zu helfen. Doch er war schwer.

Wie gesagt, ich wusste nicht, wie mein Kopf auf diese Idee gekommen war, denn natürlich schafften es meine dünnen Arme nicht, sein Gewicht zu halten. Stattdessen wurde ich immer weiter über die Dachkante gezogen. "Lass los!", zischte er grob, und als mein Körper nicht reagierte, riss er seinen Arm frei und schwang sein Bein ohne große Anstrengung über die Kante und rollte sich seitlich aufs Dach, dann setzte er sich auf.

"Was sollte das?!", fragte er plötzlich total aufgebracht. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen, verschränkte dann die Arme vor der Brust und schnaubte. "Offensichtlich habe ich versucht, dir zu helfen. Idiot."

Kopfschüttelnd raufte er sich durch die Haare und drehte sich weg. "Hat ja gut geklappt, mh?", erwiderte er ironisch. "Oh verdammt, kannst du nicht einmal etwas Dankbarkeit zeigen?? Du kritisierst mich ständig, dabei bist du selbst aber auch nicht besser!", rief ich wütend und warf die Hände dramatisch in die Luft. Ich gestikulierte immer ewig viel, wenn ich mit ihm redete, und es machte mich ganz krank und kirre, weil er es trotzdem nicht zu verstehen schien.

"Wieso soll ich dankbar dafür sein, dass du bereit bist, dich über die Kante zerren und in den Tod stürzen zu lassen, huh? Ich hab schon gemerkt, du meinst es nur gut, aber sei doch nicht so dumm! Wenn ich nicht aufs Dach komme, kannst du daran auch nichts ändern." Ich hörte, wie er laut durchatmete, als würde er sich beruhigen wollen. Doch- verstand ich ihn gerade richtig? Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. Eigentlich sollte ich langsam schlauer aus ihm werden, doch er verwirrte mich nur immer und immer mehr.

Dann drehte er sich wieder um, wich meinen Blicken aber aus und setzte sich auf den Boden. Seufzend tat ich es ihm gleich. Wirklich darauf antworten konnte ich nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, oder ob er überhaupt etwas gesagt hatte oder ob ich langsam verrückt wurde und mir das bloß einbildete. Denn sein Blick war wieder so kühl wie immer, sein Atem ruhig, als hätte nichts von dem eben geschehenen stattgefunden. Schweigend kramte ich meine Wasserflasche aus dem Rucksack und trank etwas, dann lehnte ich mich zurück und schloss erschöpft die Augen. Mann, was für ein Tag. Vom Wandern war ich echt müde geworden, und die letzten Nächte waren nicht sehr ausruhend gewesen.

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