N I N E

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N I N E | Als ich die Augen aufschlug, öffneten sie sich kaum,  schwarze Ränder hatten sich in meine Sicht geschoben. Ich war wie gelähmt, ich konnte mich nicht bewegen. Schwach blinzelte ich einige Male. Ich schien alleine zu sein.

Mein Gesicht schmerzte höllisch. Alles pochte und brannte, an meiner Lippe spürte ich getrocknetes Blut. Ich konnte nicht fassen, dass er mich so zusammengeschlagen hatte. Ich konnte nicht einmal fassen, dass er mich so sehr hasste. Ich hatte ihm nie etwas getan, hatte nur versucht mich zu verteidigen. Natürlich musste ich ständig mit ihm diskutieren, doch ich nahm mich doch nur in Schutz. Ich war nie gemein zu ihm gewesen, nur wenn er angefangen hatte. Und in meinen Augen hatte ich nichts getan, das solch eine Prügelei rechtfertigen konnte.

Sobald ich mich einigermaßen bewegten konnte, hob ich stöhnend eine Hand zu meinem Gesicht. Alles war dick und fühlte sich heiß an. Tränen wallten in mir auf. Alles tat mir weh.

Mein Selbstbewusstsein sank von Tag zu Tag. Menschen brauchten Trost, Liebe, Unterstützung. Ich hatte nichts. Ich hatte jemanden, der mich am Leben ließ, um mich zu quälen und zu foltern. Ich verlor die Lust am Leben, immer ein Stückchen mehr. Ich rutschte in ein tiefes Loch und keiner half mir heraus. 

Ich hatte nie oft geweint, doch hier an diesem Ort mit diesem Menschen um mich herum, ich konnte nicht mehr anders. Ich vermisste alles, richtiges Essen, sauberes Wasser, warme Duschen und Zähne putzen. Ich vermisste Menschen, die mich lieb hatten. Ich vermisste ein warmes weiches Bett. 

Wäre ich alleine an diesem Ort gewesen, wäre es sicher erträglicher geworden. Der meiste Schmerz ging von ihm aus. Ich begann ihn zu hassen. Nach all den Chancen, die ich ihm gegeben hatte, nach all den Gesprächen, die ich hatte anfangen wollen, so gemein er auch gewesen war, ich hatte ihn nie richtig gehasst. Und jetzt hasste ich niemanden so sehr wie ihn.

Die heißen Tränen brannten auf meinem angeschwollenen Gesicht. Ich wollte es kühlen, einfach nur kühlen und den Schmerz etwas lindern. Doch ich hatte nichts. Ich lag weiterhin schwach am Boden. Als ich hörte, wie er zurückkam, ignorierte ich ihn, bedachte ihn nicht einmal mit einem Blick. Ich sagte kein Wort, gab keinen Laut von mir. Ich wollte nur, dass er mich in Ruhe ließ. Und wehe ihm, sollte er mich auch nur anschauen.

Zu meinem Glück tat er das nicht. Wahrscheinlich dachte er, ich wäre noch immer nicht bei mir. Allein der Klang seiner Schritte löste tiefsten Hass in mir aus. Weitere Tränen sammelten sich in meinen Augen. Die Wut allein war dafür verantwortlich. Wie konnte er es wagen sich wieder blicken zu lassen, nach allem was er mir angetan hatte?

Als er sich hinsetzte, bemerkte ich, wie sein Blick zu mir fand. Ich war mir sicher, dass er die Wut sah, die in mir brodelte, während wir uns schweigend in die Augen starrten, ohne zu blinzeln, ohne die Blicke abzuwenden. Er machte sich nichts daraus, dass ich so wütend war. Er wusste, ich stellte keine Bedrohung für ihn dar. Das würde ich wohl nie. Doch ich hatte meinen ganzen Respekt vor ihm verloren. Ich hatte Respekt gehabt vor seiner Stärke, vor seiner Überlegenheit. Jetzt hatte ich nur noch Angst. Aber würde ich mit ihm reden? Niemals. Die Wut würde mich wahrscheinlich ewig begleiten. Nichts zu sagen war ja besser, als etwas Dummes zu sagen.

Irgendwann wurde ich ihm zu langweilig. Desinteressiert drehte er den Kopf von mir weg und begann zu essen, doch ich löste meinen Blick nicht von ihm. Stundenlang lag ich so da und beobachtete ihn voller Hass, bis ich irgendwann aufs Klo musste. 

Ohne ihn daraufhin auch nur eines Blickes zu würdigen, setzte ich mich schwach auf. Alles schmerzte mir, mein Gesicht begann nur noch fester, noch schmerzhafter zu pochen. Ich zog mich angestrengt auf die Beine und kippte gegen die Wand. Meine Nägel splitterten, als ich mich versuchte an ihr festzuhalten, um nicht wieder umzukippen.

"Ich hab es dir gestern schon gesagt. Bleib sitzen!", murmelte er bedrohlich, ohne den Kopf zu heben. "Ich muss mal.", gab ich kleinlaut von mir. Ich hatte keine Lust noch eine übergebraten zu bekommen, mein Gesicht tat schon genug weh. Seufzend stand er auf und legte sein blödes Gummibrot beiseite, dann kam er auf mich zu, legte meinen Arm um seinen Nacken und packte mich mit der freien Hand sanfter als sonst an der Hüfte.

Ich versuchte wirklich, mich nicht verwirren zu lassen. Wahrscheinlich war es ein Trick. Er meinte es nicht so. Er hatte etwas vor, das konnte ich jetzt schon sagen. Doch die plötzliche Nähe überraschte mich und obwohl ich es hasste, gab es mir ein Gefühl von Sicherheit zu wissen, dass mir niemand was antun konnte, solange er so nah bei mir war. Ich verfluchte mich dafür.

So ekelhaft es auch war sich in dieser Stadt erleichtern zu müssen, war dieser Tag schlimmer. So gesehen blieb uns nichts anderes übrig, als zwischen den Häusern wie wilde Tiere unser Geschäft zu erledigen, doch als der Junge darauf bestand, dass ich heute nicht in der Lage sei, alleine zu sein, fühlte ich mich so unwohl wie noch nie.

"Bitte geh. Ich kann das so nicht.", murmelte ich unsicher. Ich würde ganz sicher nicht die Hose runterlassen, während er mich stützte. Heilige scheiße, das war ja mehr als nur peinlich! Es dauerte Ewigkeiten, bis ich ihn endlich überreden konnte, wenigstens so weit weg zu gehen, dass er mich nicht sah und ich musste schwören, dass ich ihn rufen würde, falls ich Hilfe brauchte. Was war heute nur los mit ihm? Das machte er doch sonst nie so überfürsorglich.

Zu meinem Glück funktionierte alles einigermaßen gut und ich humpelte zufrieden aus meiner kleinen Ecke wieder heraus. "Bist du verrückt? Ich hab dir gesagt, dass du nicht laufen sollst!", fuhr er mich plötzlich an, als er mich erblickte. Sofort zuckte ich zusammen und machte einen Schritt zurück, doch er hatte mich schon am Arm gepackt und mich zu sich gezogen. Ich wusste nicht, wie ich die Situation einstufen sollte, denn er schien mich nicht schlagen zu wollen und ich weigerte mich zu denken, dass er sich Sorgen machen könnte. Er war nicht irgendein Mensch, er war herzlos und eiskalt.

"Ich werde mich ganz sicher nicht um einen Krüppel kümmern, wenn du dein Bein verlierst.", fügte er noch grob hinzu und packte mich diesmal nicht mehr ganz so sanft, um mich zurück zu unserem Lager zu bringen. Ich schwieg. Ich würde nichts sagen. Nicht, solange es nicht sein musste. Ich hatte aufgegeben, etwas Gutes in ihm zu suchen.

Lustlos ließ ich mich auf meinen Hintern fallen, als wir ankamen. Es tat mehr weh als sonst, jetzt da meine Muskeln sich abgebaut und mein Körperfett aufgebraucht waren. Ich war schrecklich dünn und das so genau an mir selbst zu sehen, machte mir Angst. An sich selbst sah man es normalerweise am wenigsten, da man sich jeden Tag sah, doch es ging so schnell. Kaum etwas zu essen zu haben änderte so vieles. Es war erschreckend, wie wenig man das zu schätzen wusste, wie wenig Ahnung man hatte, was so manche Länder auf dieser Welt tagtäglich durchlebten.

"Kann ich was zu essen haben?", fragte ich schließlich leise. Ich litt ununterbrochen am Hunger, er verfolgte mich, und heute hatte ich noch gar nichts gegessen. Ich verdiente meine Mahlzeit für diesen Tag.

Ich sah, wie er den Kopf hob und mich kurz musterte, dann holte er sechs Scheiben Brot aus seiner Tüte und gab sie mir. Normalerweise bekam ich drei oder vier Scheiben pro Tag, während er um einiges mehr aß als ich, doch seit ich verletzt war, 'versuchte' er mir wenigstens ein bisschen mehr zu geben, sodass ich mich besser erholen konnte. Natürlich konnte er mir mehr geben und das wusste er auch, doch dafür war er zu egoistisch und zu geizig. Er war kein Teamplayer. Es wunderte mich überhaupt, dass er mich mein Essen nicht alleine suchen ließ. Auch wenn ich mich immer fragen musste, woher er dieses Brot eigentlich hatte.

"Danke.", murmelte ich widerwillig. Ich würde nichts mehr riskieren. So lange nicht, bis ich wenigstens wieder einigermaßen gesund war. Wie immer reagierte er kein Stück, nicht einmal ein kleines Nicken brachte er zustande. Es machte mich jedes Mal wütend. Doch ich wendete mich bloß meinem Brot zu und biss herzhaft hinein, bis ich drei Scheiben aufgegessen hatte. Die restlichen drei würde ich für den Abend aufheben.

Man gewöhnte sich an den Geschmack.


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Heyyyy :))
Heute mal ein etwas kürzeres Kapitel, mit dem ich nicht gaaaanz so zufrieden bin, aber ich denke es ist in Ordnung für ein Übergangskapitel, was meint ihr?
Ich erwarte zwar keine Kommentare, aber wenn ihr eins dalassen möchtet, beschwere ich mich nicht xD Ehrlich gesagt würde mich mal eine Meinung zu diesem Buch eher freuen, da ich noch gar keine Rückmeldung von euch bekommen hab.. Aber nun ja, ich bin froh, dass ihr diese Story überhaupt bis hier hin gelesen habt ^^

All the love, Vicky Xx

IsolatedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt