4 | 19. Kapitel

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"Herein!" Genau auf die Aufforderung hatte ich gewartet und doch brauchte ich jetzt ungewöhnlich lange, bis ich mich dazu überwinden konnte, die Tür aufzudrücken. Der Tränkemeister stand mit dem Rücken zu mir vor seinem Schreibtisch, wandte sich jedoch um, als ich eintrat. "Du bist spät dran, Caitlyn!"

"Ja, tut mir leid." Meine Stimme klang ungewöhnlich kleinlaut, während ich zaghaft die Tür hinter mir schloss.

Mein Vater runzelte die Stirn und trat einige Schritte auf mich zu. "Alles in Ordnung?"

Abwesend nickte ich. Wie sollte ich am besten das Gespräch in Richtung meiner Vergangenheit lenken? Sollte ich einfach mit der Tür ins Haus fallen und ihn fragen? Doch irgendetwas in mir ließ mich zaudern. Vielleicht war es dir Angst davor, genau das zu erfahren, was ich nicht hören wollte.

Nach einer Lösung suchend, ließ ich meinen Blick kreuz und quer durch sein Büro schweifen und tat alles, um ihn nicht ansehen zu müssen. "Hey", sanft packte er mich am Kinn und zwang mich so, ihn anzusehen. "Lüg mich nicht an. Was ist los?"

"Alles okay, wirklich", sagte ich und schüttelte seine Hand ab, um erneut den Blick abzuwenden, damit er die Lüge nicht aus meinen Augen las.

Mir war klar, dass er es trotzdem wusste, doch er tat mir den Gefallen und vertiefte das Thema nicht weiter, stattdessen räusperte er sich einmal. "Sollen wir dann anfangen?"

Diese Frage aus dem Mund von Severus Snape zu hören, der sonst nie nach etwas fragte, war so seltsam, dass ich für einen Augenblick meine Angst wegen der ausstehenden Antworten vergaß und sich ein Lächeln in meinen Mundwinkel schlich. "Natürlich, Vater."

Mit einem knappen Nicken bedeutete er mir, mich auf den mit smaragdgrünen Polstern bezogenen Stuhl zu setzen und mich bereit zu machen. Diese Maßnahme hatten wir nach dem letzten Mal getroffen, bei dem ich ziemlich unsanft auf dem harten Steinboden gelandet war und mir dabei den Hinterkopf angeschlagen hatte, nachdem mein Vater sich wieder aus meinem Geist gelöst hatte. Heute war er eine willkommene Möglichkeit, meine schlotternden Knie zu entlasten.

Mit auf mich gerichteten Zauberstab positionierte sich der Tränkemeister direkt vor mir und murmelte ohne Vorwarnung: "Legilimens."

Ich zuckte zusammen, als ich seine vertraute Anwesenheit in meinem Geist spürte, war jedoch nicht in der Lage, ihn zurückzudrängen. Bilder zuckten rasend schnell vor meinem inneren Auge vorbei. Erinnerungen an den Tag, an dem ich elf geworden war und meinen Brief aus Hogwarts bekommen hatte, Lockhart in einer der zahlreichen missglückten Unterrichtsstunden, Quidditchtraining, Mannschaftssitzung auf den Astronomieturm und schließlich, vor mehreren Wochen, das Gespräch mit Dumbledore in der Eingangshalle.

Es wäre so einfach, meinen Vater mit meinen Sorgen zu konfrontieren. Ich müsste ihm nur gestatten, meine Erinnerung zu sehen, dem Gespräch mit Dumbledore beizuwohnen – doch mein kurzes Zögern reichte und ich reagierte instinktiv, indem ich ihn aus meinem Geist verbannte. Es war das erste Mal, dass mir das gelang.

Ein Blinzeln später blickte ich wieder in die schwarzen Augen meines Vaters, die bedrohlich funkelten. Sein Zauberstab war immer noch auf mich gerichtet.

Irgendetwas in mir sah es kommen und dennoch, ehe ich reagieren konnte, spürte ich einen erneuten Angriff auf mein Bewusstsein.

Ein weiteres Mal reagierte ich instinktiv. Zeit zum intensiven Nachdenken hatte ich nicht. Ich verschloss mich, verdrängte alle Gedanken alle Bilder und wirkte mit einer knappen Bewegung meines Zauberstabs einen Protego.

Die Bilder änderten sich. Die Stimme meiner Mutter, die schrecklichen Schreie, Flehen, all das, was mich in der Nähe von Dementoren immer übermannte, verstummte und wurde durch eine junge Mädchenstimme ersetzt.

"Ich weiß nicht, Sev." In der zarten Stimme klangen Zweifel mit und aus der Schwärze entstand eine helle schmale Treppe, auf deren Mitte zwei Kinder standen, vielleicht vier bis fünf Jahre jünger als ich. An der Wand hingen mehrere unbewegliche Bilder. Muggelbilder.

Die Rothaarige hatte sich dem schwarzhaarigen Jungen in den Weg gestellt und kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe. "Wenn sie das herausfindet, wird sie mir das nie verzeihen."

"Wie sollte sie das denn machen?", fragte der Junge mit einem spitzbübischen Lächeln und mit einem Mal wusste ich, wer er war.

Ich sah eine Erinnerung meines Vaters. Er, als er ein kleiner Junge war und wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass die Rothaarige meine Mutter, Lily, war, die unsicher die Schultern zuckte. "Ich weiß es nicht. Tunia findet viel heraus und ich weiß nicht, ob ich sie anlügen könnte."

Die junge Ausgabe meines Vaters lachte verächtlich. "Sie ist ein Muggel. Sie wird nichts merken. Und vielleicht haben wir uns ja auch geirrt – lass uns doch einfach nachschauen."

Zwar hatte das Mädchen bei der Bezeichnung 'Muggel' ein deutlich finsteres Gesicht gemacht, doch bei seinen Worten knickte sie merklich ein.

Nach einem Nicken ihrerseits löste sich der Flur in Luft auf und ich saß keuchend wieder auf meinem Stuhl, ängstlich zu meinem Vater hochschauend.

Sein Gesicht war ausdruckslos und ich hatte nicht die geringste Idee, was er in diesem Moment dachte. War er wütend? Langsam, bedacht, fragte ich: "Waren das du und meine Mutter?"

Frostig nickte er und dieses Mal war er derjenige, der sich abwandte, um sich vor mir zu verschließen. Unter seinem Umhang konnte ich seine angespannten Muskeln erkennen, die deutlich machten, wie ungern er darüber redete. Doch jetzt würde ich keinen Rückzieher mehr machen. Ich hatte so unendlich lange gewartet, ich hatte überlegt, wie ich mit ihm auf dieses Thema kommen sollte und jetzt bot sich mir die perfekte Gelegenheit. "Du hast mich gefragt, was mir auf dem Herzen liegt, ... ich wollte dich nach dir und meiner Mutter fragen, meiner Vergangenheit."

"Wieso?", kam es schroff von ihm zurück und ich zuckte leicht zusammen. Immer noch sah er mich nicht an. "Ich denke, ich habe dir so einiges mehr erzählt, als ich ursprünglich vorhatte. Woher kommt diese plötzliche Neugier?"

Ich zögerte. Sollte ich ihm von Dumbledore erzählen? Es widerstrebt mir, allerdings konnte ich nur Ehrlichkeit von ihm fordern, wenn ich sie ihm im Gegenzug ebenfalls entgegenbrachte. "Es gibt so viele Ungereimtheiten. Wieso scheinen mich so viele Personen wiederzuerkennen? Mr. Ollivander hat damals eine ganz seltsame Andeutung gemacht, meinte, als er meinen Namen erfahren hatte aber, er würde sich irren. Dumbledore hat jetzt schon mehrfach Andeutungen gemacht, dass du mir etwas verschweigen würdest." Als ich einmal angefangen hatte zu sprechen, fiel es mir schwer, wieder aufzuhören.

Ich redete mir alles von der Seele, was sich in letzter Zeit angesammelt hatte. Angefangen bei meinem seltsamen Gefühl, dass etwas in meinem Leben fehlte, bis hin zu Sirius Blacks Entschlossenheit und seiner Wut auf meinen Vater.

Während ich redete, drehte sich der Professor langsam, wortlos zu mir um und sah mich lange an. Ich glaubte etwas wie Resignation in seinen Augen zu sehen. Und noch etwas, etwas, was ich nicht zuordnen konnte. War es Angst? Aber ein Severus Snape hatte keine Angst. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Ohne mein Zutun verwandelten sich seine Augen mit einem Mal wieder in schwarze Tunnel und der einzige Wunsch, der sich immer wieder in meinen Gedanken formte, war der Wille, endlich die Wahrheit zu erfahren.

Plötzlich wurde alles schwarz um mich herum. Schwarz, wie die Augen meines Vaters.

Unknown Potter I - Secrets of the PastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt