Am nächsten Tag sitze ich gelangweilt im Lateinuntericht. Wir haben gerade einen Überraschungstest geschrieben und ich habe keine einzige Vokabel gewusst. Zum Glück hat mir Delilah ihren Test über den Tisch geschoben. So konnte ich noch die Hälfte abschreiben, bevor die Zeit abgelaufen war. Ich verstehe gar nicht, wieso wir Latein lernen. Dieso Sprache ist nach dem Untergang des römischen Reiches bereits ausgesrorben. Und das ist mehr als tausend Jahre her.
"Ruhe!" Schreit Miss Evans und versucht uns zu übertönen.
In 30,74 Sekunden verstummt schließlich auch der letzte Schüler. Miss Evans atmet tief ein.
"So. Ihr wisst alle, dass heute die Liste der Außerwählten für die Tests ausgehängt wird." Sofort wird überall im Raum gemurmelt.
"Ruhe, hab ich gesagt!" Sie haut mit ihrer Faust auf den Tisch. Schlagartig ist es leise.
"Ich werde diese Liste jetzt mit einem Magneten aufhängen. Und ihr bleibt alle sitzen. Keiner rührt sich, bevor ich es nicht sage. Verstanden?" Wir nicken. Es ist totenstill. Einige Schüler kauen an ihren Fingernägeln, andere wippen nervös mit dem Fuß. Ich höre das Quietschen eins Stuhles, der zurückgeschoben wird. Es ist Jeremy. Ein Junge, zwei Jahrgänge unter mir. Er ist einer der jüngeren unserer Fehlerklasse und ziemlich frech. Er hatte versucht den Stuhl unauffällig nach hinten zu schieben, aber es war ihm misslungen.
"Keiner. Habe ich gesagt." Zischt Miss Evans ihn an. Dann nimmt sie sich einen roten Magneten. Die Liste ist in ihrer linken Hand. Stille ist wieder eingekehrt. Was auf dieser Liste steht, wird unser Leben verändern. Und das ist mir nur zu gut bewusst. Ich knirsche mit den Zähnen. Langsam geht unsere Lehrerin zur Tafel. Ihre Stöckelschuhe, die beim Auftreten einen dumpfen Klang erzeugen, hallen durch die Klasse. Mann hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Spannung in der Luft ist nahezu greifbar. Sie pinnt die Liste mit dem Plastikmagneten fest und geht zur Tür. Als sie 'jetzt' sagt, dreht sie sich um und verlässt das Klassenzimmer. Stühle werden weggeschoben und Schüler hasten zur Liste. Ich bleibe sitzen.
Wesper kommt als einer der ersten an. Ich sehe seinen kämpferischen Blick. Seine Fäuste gehen in die Luft, als er seinen Namen auf der Liste findet. Ein Siegesschrei ertönt. Mittlerweile ist der Rest auch angekommen. Meime Klassenlamerade quetschen und schubsen sich, nur um einen Blick auf die Liste zu ergattern.
Stepan steht in der zweiten Reihe. Er guckt mich fragend an. Als er auf die Liste blickt, grinst er. Er bewegt seine Hand ein wenig. Das ist wahrscheinlich ein Zeichen, dass ich zu ihm kommen soll. Langsam erhebe ich mich vom Stuhl. Mittlerweile gehen die Schüler zurück zu ihren Plätzen um ihre Taschen zu holen und dann nach Hause zu fahren.
Als ich an der Tafel ankomme, ertönt die Schulklingel. Ich schaue auf das Blatt. Meine Zukunft. Schwarz auf weiß. Ich halte die Luft an. Stepan hatte Recht. Mein Name steht auf der Liste. Fuck.Nach der Schule gehe ich wieder in den Wald. Ich bin komplett aufgewühlt. Das kann nicht sein. Das muss falsch sein! Ich passe nicht zum Test, zur Regierung, zu Virreal! Ich habe schlechte Noten und bin eine Fehler. Das kann nicht stimmen. Darf nicht stimmen. Scheiße.
Jeder andere würde jetzt vor Freude Luftsprünge machen. Ich jedoch nicht. Ich traue dem System nicht. Virreal ist schlecht! Irgendwas stimmt da nicht, da bin ich mir sicher. Allein die Tatsache, dass ich ausgewählt wurde und Kristo nicht. Und das obwohl er besser ist in der Schule.
Als einem hohlen Baumstamm hole ich eine Sig-Sauer-Pistole mit dem Baujahr 1990. Es ist eine relativ kleine Handfeuerwaffe. Früher wurde sie von Polizisten in den ehemaligen Usa, heute General States, benutzt. Ich entsichere sie und streiche lautlos umher, bis ich ein paar Vögel entdecke. Dummerweise trete ich auf einen kleinen Ast und scheuche sie auf. Einen Vogel erwische ich trotzdem noch. Der Schuss ist laut und ich spüre kurz den Druck, den die Sig-Sauer ausübt. Ich sehe zu, wie die Patrone ihr Ziel trifft. Der Vogel fällt auf die Erde. Aus Wut schieße ich noch einmal. Wieso war ich nur so unkonzentriert?
'Konzentrier dich, du Lopa!' Schelte ich mich leise. Mir ist klar, dass ich die Tiere, die möglicherweise in meiner Nähe waren, aufgescheucht habe. Jagen ist jetzt Zwecklos. Ich schnappe mir den Vogel und gehe zum Versteck der Pistole. Ich lege sie zurück und gehe dann ein wenig Richtung unserer Holzhütte. Knapp 150 Meter weiter entfache ich ein kleines Feuer und zupfe dem Taubenähnlicjem Vogel die Federn aus. Dann entnehme ich die Innereien und brate das Tier auf offenem Feuer.
'So schmeckt es am Besten, Janna.' Hatte mein Vater früher auf einem unserer Streifzüge gesagt. 'Wann immer du die Gelegenheit hast, nutz sie.'
Als der Vogel gar ist, lösche ich das Feuer und trete die Glut aus. Dann bedecke ich es mit Erde und mache mich auf den Weg heim.Ich übergebe Cordelia den Vogel. Er wird wohl kaum für uns alle reichen. Beschämt blicke ich zu Boden. Wenn Symon heute nicht satt wird, ist es meine Schuld.
Als ich zum Essen gerufen werde sitzen meine Stiefmutter und Simmey schon.
"Dad?" Frage ich und blicke in die Runde.
"VR." Meint Symon nur. Ich wusste es. Er hatte mich nicht gehört. Er war nicht gekommen. Meine Augen werden leicht wässeig.
"Schätzchen. Wie war dein Tag?" Fragt mich Cordelia etwas herzlicher. Sie häuchelt vor, sich zu interessieren. Doch ich weiß es besser. Sie fragt mich das nur, weil ihre eigene Tochter gerade in VR ist. Aber in diesem Moment ist es mir egal. Ich habe etwas wichtiges mitzuteilen.
"Schlecht." Sage ich kurz und spieße mit der Gabel eine Nudel auf.
"Ach, Darling. Was ist denn passiert?" Säuselt meine Stiefmutter weiter. Symon blickt mich über seinen Tellerrand hin an.
"Ich wurde für die Tests ausgewählt." Ich stopfe mir die Gabel mitsamt Nudeln in den Mund, obwohl ich keinen Hunger habe.
"Aber das ist doch wundervoll!" Kreischt Cordelia. Ich grumelle vor mich hin. Symon schaut mich ernst an.
"Wirklich?" Fragt er leise.
"Ja." Antworte ich genauso leise und meine Stimme versagt. Cordelia flippt aus, aber Symon bleibt ernst. Er weiß, was ich denke. Er weiß, was meine Mutter dachte.
"Viel Glück." Sagt er tonlos.
"Jaa! Viel Glück, Maus! Du schaffst das!" Stimmt auch meine Stiefmutter mit ein. Sie jubelt. Jemand aus dieser Familie hat es wohl zu etwas gebracht. Ich habe es zum Test geschafft. Symons 'Viel Glück' bedeutet jedoch etwas anderes. Er wünscht mir nicht, dass ich erfolgreich die Tests absolviere, sondern, dass ich es da rausschaffe. Denn noch niemand, der den Test nicht bestanden hat, wurde je wiedergesehen. Sie wurden laut den Worten von Sebastian Viscus, dem Leiter des Systems Virreal, vom Test 'entfernt'. Ein weiterer Geund Virreal nicht zu trauen. Und noch nie hat ein Fehler bestanden. Fuck. Wie komme ich da nur lebendig raus?
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Error.
Science Fiction"Das Genie ist der Fehler im System." - ( Paul Klee ) 2498. Alles ist hochmodern und die Technik ist fortgeschritten. Virreal Chips werden in Gehirne eingepflanzt und ermöglichen es, in eine virtuelle Welt einzutauchen. Alles passiert nur noch im W...